Wenn alles sich zusammenfügt…

Eine allgemeine Theorie des Vergessens | José Eduardo Agualusa besprochen von StefanieFreigericht am 1. Februar 2018.

Bewertung: 5 Sterne

… dann muss es wohl dieses Buch gewesen sein. Kaum ein Buch finde ich so sehr für eine Leserunde geeignet, wie dieses (und so wenig geeignet als – wohl nicht existierendes – Hörbuch): auf knappen 200 Seiten nur schafft es der in Angola, der ehemaligen portugiesischen Kolonie, geborene José Eduardo Agualusa, derart viele Bilder und Bezüge zu erschaffen, dass deren Bedeutung einem einzelnen Leser vielleicht gar nicht auffällt, ohne jedoch einen „Überinterpretationszwang“ aufzubauen, wie er manchen Kurzgeschichten zugrunde liegt: für eine Taube namens Amor, die Liebesbotschaften transportiert, muss man nicht wissen, dass z.B. ein Kafka einen Vaterkomplex hatte, man kann dieses Bild einfach genießen, so man es denn wie ein Puzzle aus den verschiedenen Stellen im Text zusammengesetzt hat.

Das Bild mit dem Puzzle trifft es übrigens recht gut: Agualusa präsentiert vermeintliche Nebenhandlungen und –figuren, die sich dann plötzlich zu wichtigen Bestandteilen entwickeln (bis man sich als Leser daran gewöhnt hat und aufmerksamer liest). Dass die Personen gelegentlich im Wechsel mit ihrem Namen, ihrem Spitznamen und ihren (noch dazu über die Zeit wandelnden) Beschäftigungen genannt werden, erhöht weiter die Anforderungen an die Aufmerksamkeit des Lesers dieses Puzzles, erhöht jedoch parallel die Faszination. Zurückblättern eindeutig erwünscht (deshalb die nötige gedruckte Form). Und wie im Puzzle weiß man erst, wenn ein Teilchen an der richtigen Stelle liegt, was sich für ein Gesamtbild ergibt – unbesehen der Schönheit einzelner Stellen.

Suggeriert der Klappentext noch den meisten, es sei rein eine Geschichte über Ludo, Ludovica, die etwa 1975, 1975 aus Angst zwischen ihrer Wohnung und dem Zugang vom Flur eine Wand hochmauert und die die selbstgewählte Klausur für 28 Jahre fortsetzt, und dass, OHNE, dass tatsächlich im Klappentext steht, es ginge nur im sie. So entpuppt sich die Geschichte als hochkomplexes Geflecht zwischen verschiedenen Beteiligten. Einer der wichtigsten Beteiligten ist dabei vielleicht der Handlungsort: Angola, in dessen Hauptstadt Luanda die aus Portugal stammende Ludo lebt, das Land, das gerade den Übergang von der portugiesischen Kolonialherrschaft in die Selbstbestimmung geht, mit dem, was in vielen ehemaligen Kolonien zu diesem Schritt gehört: Aufruhr, Flucht vieler Angehöriger der ehemaligen Kolonial-„Herren“, Kämpfe um die Macht mit den Zutaten Verrat, Gewalt, Schreckensherrschaft. „Ihr habt uns fünfhundert Jahre lang ausgeplündert. Wir kommen nur holen, was uns zusteht.“ S. 22

Doch das muss man nicht vorrangig politisch lesen, das kommt nicht daher mit erhobenem Zeigefinger, der Kontext ergibt sich eher en passant bei der Lektüre – wobei gelegentliches Nachschlagen im leider erst zu Ende entdeckten Glossar ebenso hilfreich ist wie die von mir zuvor durchgeführte Recherche in Wikipedia zur Geschichte Angolas und zu der von Portugal, speziell zur Nelkenrevolution (ich erlese mir Geschichte zugegebenermaßen lieber entlang von Romanen als in Sachbüchern).

Das Buch selbst liest sich auch jenseits von Politik und Geschichte voller reicher Sprache, von Bemerkungen Ludovicas zur alten Heimat wie „…das Portugiesisch, das sie sprechen, ist nicht mehr meins.“ S. 32 (ähnliches fand ich bei „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ zur Sprache der Inuit) über ganze Passagen wie „Die Leute sehen in Wolken nicht deren Form, die ja keine ist, oder jede beliebige sein kann, weil sie sich stetig verändert. Sie sehen, wonach sich ihr Herz sehnt.
Das Wort Herz mögen Sie nicht?
Nehmen Sie einen anderen: Seele, das Unterbewusste, Fantasie, was Sie wollen. Es gibt dafür keinen genauen Begriff.“ S. 64

Das Vergessen schleicht sich als roter Faden ein: vom vergessen wollen, nicht vergessen können, vergessen werden bis hin dazu, dass man manchmal vergessen muss, damit es weiter gehen kann – diese Art Gedankenkette kann man an so vielen Stellen ansetzen. Das Buch spielt trotz der Kürze reichhaltig mit den Formen: Gedichte, ja ein Haiku, Tagebucheinträge, die genannte direkte Ansprache – allein davon war ich begeistert, neben der poetischen Sprache, den versteckten Bröckchen von Zusammenhängen, dem geradezu Fabel-haften Personen-Kosmos. Kurz, ganz kurz hatte ich mit der Zusammenführung von allen und allem zum Ende gehadert: zu glatt? Zu schnell dann doch? Nein. Das ist nun einmal Bestandteil von allem Fabel-haften – und das Ziel eines Puzzles.

 

Empfehlung für ein Folgebuch: „Der Ort, an dem die Reise endet“ von Yvonne Adhiambo Owuor

auch Afrika, aber Kenia, auch um das Ende der Kolonialzeit, aber mit Briten statt Portugiesen und zeitlich noch etwas weiter ins „Davor“ und „Danach“ greifend, auch eine weibliche Hauptfigur und viele verflochtene vermeintliche Nebenfiguren und -handlungen, mit noch mehr Anforderungen an den Leser und ggf. dessen Recherche-Bereitschaft, aber auch sprachlich und zum Hintergrund sehr bereichernd (aber sicher ungeeignet für den, dem bereits „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“, das sehr viel kürzere und zugänglichere Buch, zu viel war, zu viele Personen, zu viel an nötigem Hintergrundwissen – beides sind keine Bücher für nebenbei)

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