Julia Jessen, Die Architektur des Knotens

Die Architektur des Knotens | Julia Jessen besprochen von Hauke Harder am 21. März 2018.

Bewertung: 5 Sterne

Durch einen Knoten wird etwas ein Ganzes, aber besteht dennoch aus zwei oder mehreren Einheiten. Einfache Bilder und Szenen des Romans verdeutlichen die Ehe, die Zweisamkeit und lassen sich dann auch auf die Gesellschaft anwenden. Das Buch hat Julia Jessen der Zukunft gewidmet. Der Roman beschreibt die Krise, die durch Angst vor einem Stillstand, vor dem leeren Raum innerhalb einer Zweisamkeit und vor der Apathie entstehen kann. Es ist der zweite Roman der in Hamburg lebenden Autorin Julia Jessen, die mit „Alles wird hell“ 2015 ihren Debütroman veröffentlicht hatte. Julia Jessen spielte in einigen Filmen  und Theaterproduktionen und unterrichtet jetzt Schauspiel. Daher sind es die Dialoge, die den Charakteren aus dem Herzen sprudeln, die das Buch sehr lebendig werden lassen.

Ein Roman über eine ungewöhnliche Trennung und den Versuch einer erneuten Verbindung. Anfänglich ist es ein keimendes Gefühl, dass man etwas anderes im Leben möchte. Eigentlich ist man glücklich und doch ist etwas im Leben anders, als man es sich gedacht hatte. Das in Hamburg lebende Ehepaar Yvonne und Jonas verstehen sich gut, haben zwei Kinder  und einen großen Freundeskreis. Jeder hat innerhalb der Familie seine Rolle bekommen und funktioniert. Doch gerade dies ist es, dass Yvonne immer mehr in Frage stellt.

Es beginnt mit einem kindlichen Spiel. Ihre Jungs bauen in ihrem Zimmer aus all ihren Spielsachen eine große Stadt. Liebevoll bauen sie alles auf und geben den Playmobilfiguren auch ihre jeweiligen Funktionen. Yvonne sieht sich nun aus Kindesaugen in ihrer Rolle innerhalb der Familie und beginnt sich zu reflektieren. Kaum ist der Aufbau der Stadt beendet, beginnt für die Kinder der eigentliche Spaß: die Vernichtung. Dies ist das zentrale Bild im Roman, gleich einem Keim, der nach einem Waldbrand etwas Neues wachsen lässt. Überall tauchen im Text Symbole und Methapern auf, die Gegensätzliches bewirken. Aber plakativ wird der Text niemals, sondern er entwirft das Innenleben einer Krise. Die Suche nach dem Keim eines Neuanfangs, der durch Lösung des festgezurrten Knotens zu einer neuen Bindung verhelfen kann.

Yvonne hadert mit sich und wirkt leicht depressiv. Sie möchte raus aus dem Ich, der erdachten und empfundenen Rolle. Sie möchte weg und weiß nicht wie und wohin. Die Familienfeste erlebt sie zwiegespalten und die Reise zu Freunden nach Dänemark lässt sie gleich der sogenannten „Vision Zero“ einen für sie und ihr Umfeld drastischen Schritt machen. Sie sind zu einer Taufe eingeladen und Yvonne geht nach dem Fest mit einem jüngeren Gast in eine Bar und schläft mit ihm. Sie macht es nicht, weil sie Jonas nicht mehr liebt, sondern einfach, weil sie sich wieder spüren, sich selbst finden und bestätigt wissen möchte. Sie handelt aus dem Effekt heraus und ahnt noch nicht, dass sie somit ihre perfekt aufgebaute Welt zerstört. Sie will ihre Ehe und Familie nicht verlieren, möchte aber nicht so weitermachen wie bisher, ohne dabei zu wissen, was sie tatsächlich ändern möchte. Jonas, dem sie alles erzählt, ist wie vor den Kopf gestoßen.

Es sind Lebenskrisen, die das Wechselspiel aller Emotionen durchlaufen. Einfühlsam schildert Julia Jessen die Auflösung und Aufbauprozesse, denn zum Stammtisch der gescheiterten Existenzen können sich die Protagonisten noch nicht zählen. Muss zwangsläufig Unglück aus Zerstörung wachsen? Angst, Selbstzweifel, Deutlichkeit und die familiären Bindungen lassen die Charaktere handeln. Die Flucht aus der Vorherbestimmbarkeit des geordneten Lebens geht viele an. Sie benötigt zum Glück nicht immer eine Rodung und birgt somit in sich auch etwas Beruhigendes.

Der Roman beschreibt mit Poesie und Bildern die Fliehkraft, die der Trägheit entgegenwirkt, den Druck, d.h. die Kraft, die sich der Verkleinerung entgegenstellt und die Anziehungskraft der Liebe. Beschrieben wird der Wunsch nach der Lösung aus verknoteten Rollenfunktionen und der Sehnsucht nach familiärer Bindung, auch wenn es manchmal nicht mehr so ist, wie es vorher war.

Ein fesselnder Roman über eine Selbstfindung und Rettung. Dieser Neubeginn lässt keinen unberührt und unverändert zurück.

Zuerst veröffentlicht auf leseschatz.

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