Ian McGuire: „Nordwasser“

Nordwasser | Ian McGuire besprochen von Hauke Harder am 4. April 2018.

Bewertung: 5 Sterne

Ein historischer Roman, der uns die nackte Wahrheit über das Leben auf einem Walfänger erzählt. Das brutale, entbehrungsreiche Leben auf dem Schiff wird für den Leser hautnah erlebbar und man taucht mit allen Sinnen ein in diese urbane Männerwelt. Die literarische Reise zwingt uns die Elemente, Gerüche, Enge und Brutalität an diesem Schauplatz mitzuerleben. Einiges wollte man nicht erfahren, folgt aber dennoch gänzlich gebannt der Handlung, die sich hauptsächlich auf der Volunteer, einem Walfangschiff, das 1859 seinen Heimathafen Richtung Grönland verlässt, abspielt. Alle Männer auf dem Schiff bringen ihre seelische Last mit an Bord. Es ist die Zeit des Wandels, die Industrialisierung schreitet mit großen Schritten voran. Die Dampfschiffe lösen die klassischen Segler ab und die Nordwasser sind bereits überfischt. Dennoch gibt es immer noch Schiffseigner, die ihre Kapitäne und ihre Mannschaften in die Nordwasser schicken, um dort Beute zu machen.

Im Vordergrund stehen zwei Kontrahenten. Als erstes lernen wir Henry Drax kennen, der noch an Land unangenehm auffällt. Er ist ein Halunke, der ohne Skrupel agiert und als Harpunier auf der Volunteer angeheuert hat. Sein brutaler Charakter wird im Laufe der Reise immer ausgeprägter. Erstmalig auf einem Walfänger findet sich der Arzt Patrick Sumner ein. Er hat als Soldat, d.h. ebenfalls als Arzt, in Indien gedient und wurde unehrenhaft aus der Armee entlassen. Dies verheimlicht er und erzählt seine Familiengeschichte um ein Erbe, dass er noch nicht antreten kann und jetzt die Zeit mit einer bezahlten Reise überbrücken möchte. Er denkt, er wird auf der Fahrt wenig zu tun haben und kann sich ganz seinem Homer widmen.

Als das Schiff die Nordmeere und das Eis erreicht, beginnt die blutige Jagd. Zuerst werden Robben für ihre Felle gemordet, dann sogar eine Eisbärmutter. Das Eisbärbaby wird für den Zoo lebendig gefangen und Unterdeck eingesperrt. Das Hauptaugenmerk der Männer liegt aber auf dem Walfang.

Das Leben an Bord wird geprägt durch körperliche und geistige Enge. Der Arzt wird von einem Schiffjungen aufgesucht und Sumner findet eindeutige Beweise eines Missbrauchs vor. Als er dies gegenüber dem Kapitän und der Mannschaft anspricht, wird dieser Junge kurz darauf ermordet vorgefunden. Das Schiff muss sich nicht nur im ewigen Eis der lebensfeindlichen Umgebung stellen, sondern auch die Menschen haben selbst ein solches Umfeld auf dem Schiff geschaffen. Die Besatzung zahlt für alles einen hohen Preis.

Das Buch ist von vornherein spannend und toll geschrieben. Der Roman lebt von seiner fast schon spürbaren Sprache und Bildern. Alles wird im Leser lebendig und erfahrbar. Die Farben, die Gerüche und die Stimmungen schwappen über einen und lassen sich nicht so schnell wieder abwaschen. Die Eindrücke sind wie ranziges, brackiges Wasser, das sich über den Leser gegossen hat.  Dies klingt übel, ist es aber eigentlich nicht. Denn dieser Roman macht wie nur wenige andere Romane vor ihm diese Zeit und das Leben an Bord für uns Leser aus der jetzigen Zeit nachvollziehbar. Der Roman ist erschütternd aber gleichzeitig auch wunderbar zu lesen und lebt von den tollen Beschreibungen. Vieles wird im Roman verdeutlicht: das unmenschliche Leben auf einem Walfänger, die Gier und der Blutrausch, die Gewalt gegenüber der Natur und den Tieren. Das respektlose Miteinander und das arrogante Auftreten der Europäer gegenüber den Ureinwohnern werden ebenfalls thematisiert.

Der Text erinnert an die großen Werke von Annie Proulx: „Aus hartem Holz“, Philipp Meyer: „Der erste Sohn“, Michael Punke: „The Revenant – Der Rückkehrer“ und natürlich an Melvilles „Moby Dick“.

Ein großartiger Roman, der sehr spannend zu lesen ist und uns in eine ferne Welt trägt. Aber das Buch ist nichts für sehr zart besaitete Leser.

Zuerst veröffentlicht auf Leseschatz:

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