Janet Lewis: „Die Frau, die liebte“

Die Frau, die liebte | Janet Lewis besprochen von Hauke Harder am 9. Juli 2018.

Bewertung: 5 Sterne

Der deutsche Titel klingt nach einem klassischen Liebesroman, aber Janet Lewis erzählt keine wahre Liebesgeschichte Sie hat ein literarisches Werk erschaffen, das bereits 1941 herauskam und nun erstmals auf Deutsch erscheint. Im Original heißt der Roman „The Wife of Martin Guerre“ und fußt auf einem der berühmtesten Rechtsfälle Frankreichs. Die Martin-Guerre-Geschichte ist mehrfach aufgegriffen worden. Janet Lewis (1899-1998) hat aus diesem wahren Fall großartige Literatur geschaffen und lieferte damit diverse Vorlagen. 1993 wurde die Handlung in dem Film  „Sommersby“ mit Jodie Foster und Richard Gere verändert, d.h. in den amerikanischen Bürgerkrieg verlegt, nacherzählt. Auch 1982 wurde diese Geschichte als „Die Wiederkehr des Martin Guerre“ mit Gérard Depardieu verfilmt.

Der Roman beginnt 1549 im Dorf Artigues und endet mit dem Gerichtbeschluss in der Stadt Toulouse im Jahr 1560. Zur Winterzeit verharren die Bewohner der Bergdörfer in erzwungener Untätigkeit und Abgeschiedenheit. Im Winter wurden daher viele Hochzeiten gefeiert. An einem Vormittag im Januar wurden Bertrande de Rols und Martin Guerre miteinander vermählt. Beide sind noch Kinder, gerade elf Jahre alt, und sollen dem langen Zwist beider Familien durch ihre Eheschließung eine Ende bereiten. Als sich die Kinder von der großbäuerlichen Versammlung verabschieden, ist es Martin, der die Kälte in das Schlafzimmer hereinlässt und seine Frau grob behandelt. Die Wärme kommt zurück durch die Bedienstete, die den Kindern den Mitternachtsschmaus auf die Stube bringt. Bereits in dieser Szene wird vieles von der Autorin beleuchtet und literarisch umgesetzt, so dass sich bereits die Tiefe des ganzen Romans erahnen lässt. Es dauert einige Zeit bis Bertrande auch auf den Hof der Familie ihres Mannes zieht. Dort wird sie in die Familie und den tagtäglichen Hofbetrieb aufgenommen. In diesem  Patriarchat hat bis zu seinem Ableben Martins Vater das Sagen auf dem Hof und den Ländereien. Martin bekommt nur Parzellen zugewiesen, um in seine kommenden Aufgaben hereinzuwachsen. Bertrande sucht die Nähe und Leidenschaft und wird auch schwanger. Als Martin seinen eigenen Weg gehen möchte und entgegen den väterlichen Anweisungen handelt, will er für einige Tage den Hof verlassen. Doch aus diesen wenigen Tagen werden Jahre.

Als Martin Guerre nach rätselhaften acht Jahren seiner Abwesenheit endlich zurückkommt, ist Bertrande voller Freude. Ihr inzwischen zehnjähriger Sohn weicht seinem wiedererlangten Vater nicht mehr von der Seite. Bertrande, die nicht Witwe war und oft mit ihrem Leben gehadert hatte, bekommt neue Hoffnung. Sie gibt sich der Liebe hin, denn Martin ist einfühlsam, stiller und liebenswürdiger geworden. Sie bekommen noch ein weiteres Kind und es scheint sich einiges zum Guten zu wandeln und zu fügen. Doch keimt in Bertrande ein Zweifel, der ihr Herz immer schwerer werden lässt. Ist es wirklich Martin, ihr Ehemann, der zurückgekehrt ist? Die ganze Familie und Hofgemeinschaft hat ihn als diesen erkannt und angenommen, doch irgendetwas ist anders. Martin ist in ihren Augen ein anderer, auch wenn er die körperlichen Merkmale aufweist. Sie ist hin und hergerissen zwischen der Sehnsucht nach Liebe und Zuneigung und ihrer düsteren Ahnung. Als sie es anspricht, schenkt ihr keiner Glauben. Als aber ein Soldat in die Region kommt, der mit Martin Guerre befreundet war, entfesselt sich die Tragödie, die in einer richterlichen Untersuchung und einem Gerichtsbeschluss endet. Am Ende bleibt eine Leere, die aber auch einen Neubeginn in einer gewissen Freiheit bedeuten könnte. Eine Freiheit mit einem üblen Nachgeschmack.

Das Buch ist eine literarische Entdeckung. Ein Kurzroman mit einer langen Nachwirkung. Kein reines moralisierendes Sittengemälde, sondern eine tiefgründige Suche nach der Wahrheit hinter der Geschichte des Martin Guerre. Ein kleiner Roman, der durch große Erzählkunst glänzt.

zuerst veröffentlicht im Leseschatz

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