Francesca Melandri, Alle außer mir

Alle außer mir | Francesca Melandri besprochen von Hauke Harder am 9. Juli 2018.

Bewertung: 5 Sterne

Dieser emotionale Roman erzählt eine Familiengeschichte mit beeindruckenden Frauengestalten und bricht mit dem Schweigen über die düstere Kolonialgeschichte, die ihren Schatten auf die heutige Politik wirft. Der Kern ist die italienische Gesellschaft, die sich gerne als „Italiani brava gente“ sieht, aber dabei gerne die Geschichte verdrängt. Dies ist wohl leider eine europäische, wenn nicht sogar eine menschliche Eigenschaft und die damaligen Ereignisse verflechten sich mit unserer Gegenwart. Ein italienischer Familienroman, in dem Melandri in den Zeiten und Charakteren springt, ohne sich jemals zu verlieren oder die ganze Geschichte aus den Augen zu verlieren. Die Protagonisten gewinnen zügig an Plastizität und man verliert sich in dem Handlungsverlauf und inhaliert regelrecht gebannt den Roman bis zum Ende. Bereits am Anfang, im Kapitel null, zeigt sich dass, was wohl den Reiz des Romans ausmacht: die Verbindung vom Traumatischen mit leichter Ironie.

Als Attilio Profeti zu Beginn des Romans im Jahr 2012 stirbt ist er 97 Jahre alt. Seiner Familie gegenüber hat er seine Geheimnisse bis zuletzt verschwiegen. Als die Familienmitglieder mit ihm zu seinen Lebzeiten sprechen wollten, war er bereits dement. Seine Geschichte beinhaltet die koloniale Vergangenheit Italiens. 1935 zog er mit den faschistischen Truppen Mussolinis nach Äthiopien in den Krieg. Die entgegengesetzte Reise beginnt 2008. Es ist die Flucht von Shimeta aus Äthiopien und seine jahrelange Odyssee durch die Flüchtlingslager und über das Mittelmeer nach Italien.

Ilaria Profeti ist Mitte vierzig und Lehrerin in Rom und Attilios einzige Tochter. Sie ist linksliberal, hat aber eine Affäre mit einem Staatsekretär Berlusconis. Eines Tages im Jahr 2010 sitzt ein junger Schwarzer vor ihrer Wohnung. Er spricht fließend Italienisch und behauptet mit ihr verwandt zu sein. In seinem Pass steht auch in lateinischen Lettern sein Name: Shimeta Ietmgeta Attilaprofeti.

Als Attilio Profeti in Afrika war, verliebte er sich in Abeba, mit der er einen Sohn bekam. Doch er ließ beide zurück und begann in Italien ein neues Leben. Er verdrängte seine Vergangenheit und gründete eine neue Familie, während Abeba in Äthiopien blieb und ihren Sohn und später ihren Enkel erzog.

Eigentlich dachte Ilaria, sie würde ihre Familie und ihren Vater gut kennen und versucht gemeinsam mit ihrem Halbbruder Attilio Junior Licht hinter die Geheimnisse ihrer Familie zu bringen. Was ist damals passiert und was wussten die Ehefrauen Marella und Anita? Wie viele Geheimnisse hat die Familie?

Es geht um Rassismus, Korruption, Verdrängung und Verantwortung. Der Text behandelt die Geschichte und ist ein aktueller Spiegel der Gesellschaft. Ein Roman, der raffiniert und sprachlich gut geschrieben ist. Ein fesselndes Epos, das literarisch und politisch ist. Der Roman verknüpft gekonnt die Geschichte des 20. Jahrhunderts mit dem Schicksal der heutigen Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen müssen. Trotz des Umfangs hat das Werk etwas Leichtes, Ironisches  und ist ungemein zugänglich, so dass man sich in den Zeilen und Geschichten gerne verliert.

zuerst veröffentlicht im Leseschatz

Weitere Rezensionen lesen:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert