André Müller im Gespräch mit Thomas Bernhard

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Als ich Thomas Bernhard zum erstenmal auf seinem Bauernhof im oberösterreichischen Ohlsdorf besuchte, war es ein Überfall. Er hatte mit mir nicht gerechnet. Mein Bericht über diese Begegnung erschien am 28. Dezember 1971 in der Münchner „Abendzeitung“ unter dem Titel: „Mein Körper, mein Kopf, und sonst nichts“. Jahre später erfuhr ich von dem Theaterregisseur Claus Peymann, Bernhard habe den Artikel mehrmals gelesen, und von Mal zu Mal sei seine Wut kleiner geworden. Der Schriftsteller selbst äußerte mir gegenüber bei unserem zweiten Treffen, ich hätte mit der Stelle, in der ich das Wippen seines Fußes beschreibe, seine ganze Melancholie eingefangen. Die Baronin Agi Teuß, deren Vermittlung ich das Interview zu verdanken habe, schrieb mir kurz nach der Veröffentlichung in einem Brief: „Daß ich Dich zu Thomas gebracht habe, darüber muß ich mit mir selber bös‘ sein. Kommst Du wieder mal vorbei? Deine Agi.“
Sein Hof ist, so sagen die Nachbarn, „oft verrammelt, obwohl er zuhaus‘ ist“. Er hat kein Telefon, beantwortet kaum Briefe, läßt sich ungern fotografieren, spricht selten vor Menschen. Vor vier Jahren bekam er den Österreichischen Staatspreis für Literatur und ärgerte den anwesenden Unterrichtsminister durch Angriffe gegen die Heimat:
„Es ist nichts zu loben, nichts zu verdammen, nichts anzuklagen, aber es ist vieles lächerlich; es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt. Die Zeitalter sind schwachsinnig, das Dämonische in uns ein immerwährender vaterländischer Kerker, in dem die Elemente der Dummheit und der Rücksichtslosigkeit zur tagtäglichen Notdurft geworden sind. Der Staat ist ein Gebilde, das fortwährend zum Scheitern, das Volk ein solches, das ununterbrochen zur Infamie und zur Geistesschwäche verurteilt ist. Das Leben Hoffnungslosigkeit, an die sich die Philosophien anlehnen, in welcher alles letzten Endes verrückt werden muß. Wir sind Österreicher, wir sind apathisch; wir sind das Leben als das gemeine Desinteresse am Leben. Wir haben nichts zu berichten, als daß wir erbärmlich sind. Mittel zum Zweck des Niedergangs, Geschöpfe der Agonie, erklärt sich uns alles, verstehen wir nichts. Wir brauchen uns nicht zu schämen, aber wir sind auch nichts, und wir verdienen auch nichts als das Chaos.“
1970 bekam er den Büchner-Preis.
In seiner Jugend lungenkrank, dem Tod selbst oft nahe, hat er in allem das immer wiederkehrende Thema: Tod, oder: das Leben als „Schule des Todes“, oder: die Menschheit als „Sterbensgemeinschaft“.
Wo entsteht diese hoffnungsloseste deutschsprachige Gegenwartsliteratur? Wie lebt Bernhard? Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, ihn kennenzulernen, möglichst in Ohlsdorf.Erster Versuch: ein Brief, ziemlich förmlich, hochachtungsvoll. Keine Antwort. Von der Wiener „Gesellschaft für Literatur“ erfahre ich: „Er war hier, er sagte, er wolle seine Tante besuchen.“ Die Tante, zur Kur auf dem Semmering: „Er ist nicht mehr da, er sagt nie, wo er hinfährt.“ Verlag Suhrkamp: „Manchmal reagiert er nicht einmal auf unsere Briefe. Rufen Sie doch in Salzburg an.“ Wolfgang Schaffler, Residenz Verlag, Salzburg: „Ich würde ihn Ihnen auf den Schoß setzen, wenn ich ihn hätte, aber er rührt sich ja nicht.“ Gemeindeamt Ohlsdorf: „Wir haben ihn heute mit dem Auto vorbeifahren gesehen.“ Nachbar: „Ich glaub‘ er ist da, aber er macht nicht auf.“
In Wien gab mir der Dramatiker Peter Turrini den entscheidenden Tip: „Ruf doch die Agi an!“ Agi ist Marie Agnes Baronin von Handel, verwitwete Teufl, Tochter eines k. u. k. Offiziers, Nachfahre des Clemens Brentano. Sie lebt mit ihrer 84jährigen Mutter auf Schloß Albmegg nahe Ohlsdorf. Bernhard besucht sie manchmal. Am Telefon sagt sie: „Gut, mach‘ ich. Aber Sie müssen gleich von Anfang an ‚du‘ zu mir sagen. Sie sind mein Freund.“ Elias Canetti, den ich zu einem Interview in Wien traf, riet mir: „Sagen Sie ihm schöne Grüße von mir, das wird ihn zugänglicher machen.“