Anthologie 2011

Der Klang der Worte

Der Meister sprach: ‚Nachdem ich von We nach Lu zurückgekehrt war, da wurde die Musik in Ordnung gebracht. Die Festlieder und Opfergesänge kamen alle an ihren rechten Platz.‘ Kong Fu Zi (Konfuzius) • Lunyu – Gespräche
Diese Gedanken des chinesischen Gesellschaftsphilosophen und Staatsreformers erscheinen uns Heutigen unverständlich. Die Musik in Ordnung bringen – was soll das? Welche Musik – J. S. Bachs Musik ist doch in Ordnung. Die der Beatles? Die Bushidos? Nur wenige von uns leben noch in prägenden Klangwelten, wie etwa die Gläubigen vergangener Jahrhunderte in den Klängen ihrer Kirchenlieder lebten. Aber doch sind wir neben der allgegenwärtigen technischen Beschallung, auch ohne dass es uns bewusst sein muss, von einer prägenden Klangwelt umgeben – der unserer Sprache.
Schauen wir doch einmal auf den bekannten Slogan: „Geiz ist geil.“ Dieser Satz hat auch seinen Klang, seinen Rhythmus, seine eigene Musik. Ich kann mir, ja, wir können uns vorstellen, wie er sich in der Körperhaltung, im Stil der Schritte etwa eines Karrieristen widerspiegelt, wenn dieser einen Gang entlang, eine Treppe hinauf oder hinunter eilt. Dieser Slogan wurde so populär, weil auch seine innere Musik weithin als Vorschlag angenommen wurde, wie der Mensch und damit die Gesellschaft sein sollte. Man kann die Mimik und Gestik fühlen, mit der er optimal ausgesprochen werden könnte.
Dies ist für mich die gleichbleibend aktuelle Bedeutung des eingangs erwähnten, 2500 Jahre alten Zitates: Seine Sprache in Ordnung halten bedeutet, sich selbst in Ordnung zu halten. Die Sprache im öffentlichen Raum in Ordnung zu halten bedeutet, die Gesellschaft in Ordnung zu halten, gerade weil sie manchmal bewusst in Unordnung gebracht wird, um andere zu täuschen.
Als Menschen benutzen wir nicht nur die Sprache, in welcher wir reden und denken. Wir sind auch die Sprache, in welcher wir reden und denken. Literatur aber gibt uns über Worte eines Autors Sprache und Sprachmöglichkeiten zurück. Sie zeigt uns über die Bedeutung, den Klang und die Musik von Worten, wie auch wir über uns selber und über die Welt denken und empfinden können.
So stellen auch die Beiträge in dieser Anthologie eine Sammlung sehr verschiedener Klangwelten dar. Sie reichen vom trockenen Humor des belustigt über sich und die Welt Staunenden, vom skurrilen Auslotenden des Erzählbaren bis hin zur Genauigkeit des lustvollen Erforschers der Worte. Sie alle sind Angebote an den Leser, wie man die Welt, ihre Einzigartigkeit, ihre Schönheit, ihre Absurdität und auch ihre negativen Seiten wahrnehmen kann.
Als Interessierter an fernöstlicher Kultur schätze ich die Worte: „Der Westliche beachtet die Worte eines Sprechers, der Japaner sein Schweigen“, was gerade auch „seinen Atem, wenn er nicht spricht“ beinhaltet. Deswegen ist es mir ein persönliches Anliegen, die Reihe „Der Atem der Geschichte“ unseres verstorbenen Vereinsmitgliedes Peter Suchanek nach dem Hinhören auf den Klang in der Skizze „Stalin singt“ mit „Hitler pfeift“ als letzten Beitrag dieses Buches fortzusetzen.
Schließlich bedanke ich mich recht herzlich bei unserem Mitglied, Maria Jank, die uns ihre sehr schönen, selbstgefertigten Grafiken für das Buch zur Verfügung gestellt hat.

Günter Hess