Bayerwaldsagen

"Der goldene Steig"

von

Zum Geleit
Im Herrgottswinkel bei flackerndem Licht sitzt die Alt-bäuerin und erzählt den lauschenden Kindern und Kin-deskindern Sagen aus Urväterszeiten. Eine Seite tiefsten Innenlebens des Waldlers wird uns offenbar. Innige Ver-bundenheit mit Natur und Übernatur wird uns kund. Rege Phantasie und reiches Gemütsleben leuchten auf. Das Hin-tergründige, das Stille, das mit Umwelt und Oberwelt Ver-sponnene wird Wort, wird Erzählung, wird Sage, die man für wahr hält. So fangen manche Waldler ihre Berichte an: „Das habe ich selber erlebt. Das ist gewiß wahr. Das ist kei-ne Lüg. Das hat Grund.“
Aus allen Sagen sprechen viel Frömmigkeit, viel Aber-glaube, aber auch viel poesievolle, wenn auch meist schreck-hafte Phantasie. Ihre Grundlagen bilden die trotzigen Ber-ge, die düsteren, oft unheimlich ruhigen, aber im Sturm wildbewegten Wälder, Seen und Flüsse, die unerklärlichen Rufe und Schreie von Vogelwelt, Raubwild und anderem Getier. Die Sagengestalten wachsen empor aus Nacht und Nebel, Mondlicht und Schatten, aus dem Brausen des Win-des, aus dem Sinnieren und Rätseln über Leben und Tod, über Recht und Unrecht, über Schuld und Sühne. Hinter allem steht der Schauer aus dem Zwielicht zwischen Zeit und Ewigkeit, dem Denken aus verquicktem Heidentum und Christenglauben. Wer kann all das fassen, was ein Men-schenherz im Alleinsein in Furcht und Bangigkeit, in Tag- und Nachtzeit erbeben läßt?
Heute noch wachsen im Bayerwald Sagen trotz Elek-trizität und Maschinen, und sie werden wachsen, solange es Menschen mit eigener Phantasie, selbstischem Denken und Glauben gibt. Lassen wir die Heimat durch ihre Sagen in uns lebendig werden, und wir werden ihre Seele neben ogelsang und grüner Bergesschönheit in der Stille finden, und sie wird in uns tönen wie ein Glockenruf, der uns in Furcht und Freude erschauern macht.
Lassen wir die Sagen wach bleiben, und erzählen wir sie Kind und Kindeskindern an langen Winterabenden, an Spinn- und Strickabenden daheim und im Wirtshaus, in der Schule und im Jugendheim, besonders wenn der Sturm um das Haus heult oder wenn wir auf Bergen, an Seen und Flüssen, an Burgen und in Wäldern Rast machen. Unsere Sagen dürfen nicht sterben, wenn auch manche Menschen darüber lächeln und spotten. Sagen bergen unschätzbare sittliche und heimatliche Werte in sich.
Aus dieser Erkenntnis heraus haben viele Großeltern, El-tern, Kinder und die Lehrerschaft des Kreises Kötzting die vorliegenden Sagen erzählt und zusammengetragen. Ihnen allen sei hiermit herzlicher Dank gesagt, denn sie haben manches der Vergessenheit entrissen und der Zukunft bewahrt. Es würde zu weit führen, alle Namen der Mitarbeiter hier zu nennen, sie sind, soweit sie bekannt wurden, bei den einzelnen Sagen angeführt.
Möge der goldene Steig nicht wie in der gleichnamigen Sage uns abwärts, sondern aufwärts mitten hinein in das Herz der Bayerwaldheimat führen.