Beiträge zur tibetischen Erzählforschung

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Nachdem erste Beispiele tibetischen Erzählgutes zu Beginn dieses Jahrhunderts durch Veröffentlichungen von teilweise sehr kurzen Inhaltsangaben und Nacherzählungen durch O`Conor (1906), Tafel (1912) und A.H. Franke (1925) bekannt wurden, beschäftigte sich die tibetologische Erzählforschung in den darauffolgenden Jahrzehnten primär mit Übersetzungen indischer Jataka oder der tibetischen Version der indischen Vetalapañcavimíatika. Erst der Strom tibetischer Flüchtlinge nach Indien, Nepal und Bhutan lenkte die Aufmerksamkeit der Forschung in bescheidenem Maße wieder auf die in der Mehrzahl nur mündlich überlieferten tibetischen Märchen und Erzählungen.

Auf dem Hintergrund der Tatsache, daß die früher in Tibet herrschende lamaistische Ideologie eine Niederschrift des mündlich tradierten, nicht-buddhistischen Erzählungsgutes nicht zuließ, sind tibetische Märchen, Fabeln und Schwänke als besonders durch den sozialen Wandel bedrohtes Kulturgut anzusehen. Aus diesem Grunde wurde mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und unter Leitung des Bonner Tibetologen Prof. Dr. Dieter Schuh ein Projekt zur systematischen Sammlung tibetischer Erzählungen aus verschiedenen Teilen des tibetischen Hochgebirgsraumes in Angriff genommen. Nachdem schon in den Jahren 1967-69 über achtzig primär zentraltibetische Märchen vom Projektleiter auf Tonband aufgezeichnet worden waren, reiste im Jahre 1979/80 ein Team aus fünf jungen Tibetologen und Sprachwissenschaftlern nach Indien und Nepal, um dort in einer ersten Kampagne tibetisches Erzählungsgut aus sKyid-rong (Prof. Dr. Roland Bielmeier), Ding-ri (Dr. Silke Herrmann), ‚Brag-g.yab (Prof. Dr. Peter Schwieger), Amdo (Herr J.K. Phukhang) und der westtibetischen ‚Brog-pa-Viehzüchter (Dr. Monika Kretschmar) sowie aus Baltistan (Prof. Dr. Roland Bielmeier) auf Tonträger aufzunehmen und einer ersten Bearbeitung zu unterziehen. Als Ergebnis dieser Kampagne liegen nun schon nahezu vierhundert tibetische Erzählungen vor, die ein einzigartiges Zeugnis der Fabulierfreude und Fabulierkunst der tibetischen Erzähler ablegen. Das vorliegende Buch ist das vierte von vier Bänden, in denen diese Märchen, Sagen und Schwänke vorgestellt werden.