Borysthenes – Landschaft und Trauma

Die ukrainische Wunde

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Eine Schiffsreise, die mitten durch ein zerrissenes Land führt. Melanie ist mit einem Forschungsauftrag unterwegs, doch gelingt es ihr nicht, die wissenschaftliche Untersuchung von ihren eigenen Emotionen frei zu halten. Sie erlebt diese Reise doppelt. Zum einen lernt sie die Ukraine als einen Teil Europas kennen, von dem sie kaum etwas weiß, zum anderen steht der Kriegsschauplatz des „Unternehmens Barbarossa“ für eine noch lange nicht abgeschlossene Schuldfrage, der sie als Historikerin nachgeht.

Die Landschaft ist überwältigend: Ein Fluss wie ein Binnenmeer, mit fernen Ufern unter einem unendlichen Horizont. Der Dnjepr teilt nicht nur die Ukraine, er bildet gleichzeitig auch die Grenze zwischen westlicher und östlicher Zivilisation. Das Westufer gehörte Jahrhunderte lang dem katholischen Polen, während der Osten nach Vertreibung der Mongolen orthodox und russisch wurde. Der Sowjetstaat zerstörte in den 20er Jahren die dörfliche Siedlungskultur und vereinigte West- und Ostukraine auf der Basis forcierter Industrialisierung. Die vorrevolutionäre Geschichte des Landes verschwand aus den Schulbüchern. Die Kreuzfahrt-Agenda holt sie nun, Station um Station, in die Gegenwart zurück.
Hat sich nicht Katharina die Große im Frühjahr 1787 von Kiev aus mit ihrer Flotille für die „Taurische Reise“ den Dnjepr entlang eingeschifft, an dessen Ufern die elenden Dörfer auf Betreiben Potemkins mit prächtigen Fassaden getarnt worden waren? Hat die Zarin nicht in Sevastopol die ersten Schiffe der Schwarzmeerflotte eingeweiht, ist sie nicht im Gartenpalast der Tataren-Chane von Bachcisaraj abgestiegen – und rührt nicht daher der Anspruch der Kolonialmacht Russland auf die Halbinsel Krim? Erinnert das Museum von Saporoshje, unweit des gewaltigen Kraftwerks, nicht an den wilden Haufen entlaufener Sklaven und Deserteure, die sich „freie Männer“ (Kosaken) nannten und von ihrem Inselbollwerk, der Sec aus die Tataren bekämpften? Melanie lernt viel über die Geschichte dieses Grenzlandes, das die Wiege des orthodoxen Christentums war, ehe die Goldene Horde 1240 jedes Leben am Dnjepr ausgelöscht hat.

Ein Thema scheint jedoch tabu zu sein: der deutsche Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941. Die Wehrmacht hat nicht nur Schlachten geschlagen. Sie hat dem Holocaust den Weg bereitet, der hier lange vor Auschwitz begann. Mit keinem Wort wird Babij Jar erwähnt. Aus Rücksicht auf die Passagiere? Melanie misstraut ihren Mitreisenden. Die Dnjepr-Kreuzfahrten sind schon vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion hauptsächlich von deutschen Touristen gebucht worden – von einem ganz bestimmten Personenkreis: ehemaligen Kriegsteilnehmern. Viele von ihnen leben nicht mehr. Die Mehrzahl der Passagiere gehört der Nachkriegsgeneration an, aus der sich die 68er-Bewegung rekrutiert hat. Sind sie wirklich nur unterwegs, weil sie Landeskunde gern von Bord eines Schiffes aus betreiben? Melanie zweifelt daran. Sie vermutet, dass jeder der Reisenden ein verborgenes Motiv hat, das in der Familiengeschichte wurzelt.