Bruderherz

Ein Flimmern

von

Die Erzählerin, deren Namen wir nicht erfahren, hat eine Gastwohnung in New York bezogen. In der Nacht schreckt sie auf: Vorhofflimmern. Sie kennt das schon, schluckt die Notfallpille. In diesem Moment beginnt die Erzählung, die zwei Stunden zwischen Schlucken und Wirken umfaßt die Erzählzeit. Gedanken an die Kindheit kommen in ihr hoch: an die Eltern, die Geschwister, die Häuser, in denen die Familie lebte. Vor allem aber kreisen ihre Gedanken um ihren Bruder. Seit bald acht Jahren sprechen die beiden nicht miteinander, seit dem Fest in Caputh… Doch dies war nur der zufällige Anlaß einer längeren Geschichte, die an jenem Abend kulminierte, als man den 80. Geburtstag der Mutter feiern wollte. Die Erzählerin sucht nach Vorzeichen, verdeckten Hintergründen; sie versucht, ihrer gemeinsamen Vergangenheit wieder habhaft zu werden. Denn die längste
Beziehung im Leben ist die zu den Geschwistern. Oder: «Wer Hand in Hand durch die Kindheit ging, gemeinsam auf der Lauer lag und jeden Samstag im selben Wasser badete, der sagt nicht ohne den anderen Ich» – dies eine weiß sie gewiß. Es sind die alten Fragen: «Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir?», die den Text antreiben. So beiläufig das Buch erzählt zu sein scheint, so tiefgründig erforscht es die kleinen Ursachen mit den großen Wirkungen, die – den Betroffenen weitgehend verborgen – ganze Lebensläufe und Familiengeschichten bestimmen können. Kerstin Kempkers Bücher können nie auf den Plot hin gelesen werden, sie sind genuin literarisch. Wer sich nicht sentimental betrügen lassen will, ist bei dieser Autorin richtig.