Bücher der Waage

Japanische Lebensweisheit, Heiterkeit und Besinnlichkeit im Gedicht

von

Das klassische Haiku, das japanische Kurzgedicht in drei Versen zu fünf plus sieben plus fünf Silben, befasst sich traditionsgemäß mit der lyrisch-besinnlichen Bewältigung des Erlebnisses der Jahreszeiten. In seinem Schatten und als illegitimes Kindlein entstand daneben durch das freie Genie des Meisterdichters Karai Senryū 柄井 川柳 (1718-1790) das «Haiku» als Maxime, als witzige Reflexion, als respektloser Ulk, als geschliffener Spiegel des Menschen und seiner ganzen Umwelt. Nicht mehr die Natur im ewigen Wechsel der Jahreszeiten, sondern der Mensch mit seinen Alltagsfreuden und -leiden, mit seinen Eindrücken, Einfällen und Einsichten vor der Fülle des Lebendigen wird hier zum Mitteipunkt der künstlerischen Verdichtung. «Senryu» wurde zum unterscheidenden Namen für eine originale Kunstschöpfung.

Zunächst von den Klassikern verachtet, dann nachgeahmt, geduldet, zuletzt neu entdeckt und geschätzt als Manifestation ungebundenen Geistes in streng gebundener Form, gilt uns das Senryu als ein Stück Japans in seiner heiteren Unbefangenheit und Schwerelosigkeit. Gerolf Coudenhove-Kalergi hat mit den «Alltags-Haiku» des Meisters und seinen Nachfolgern wohl das Eigenwilligste und Typischste aus dem Schatz japanischer Volkskunst erschlossen.