Chora

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Derridas Text aus dem Jahre 1987, ein Beitrag zu einer Festschrift für Jean-Pierre Vernant, den großen Historiker und Mythologen des antiken Griechenlands, ist ein Versuch über Chora, die in Platons Dialog Timaios „als Empfängerin und gleichsam Amme allen Werdens“ beschrieben wird, das Zustandekommen der sinnlichen Abbilder des Intelligiblen denkbar macht. Man hat bis hin zu Heidegger Chora immer wieder als Vor-Bild des ausgedehnten Raumes und der rein rezeptiven Sinnlichkeit ausgelegt. Doch geht damit die Provokation ihrer Stellung als ein „drittes Geschlecht“ zwischen dem Sinnlichen und dem Intelligiblen verloren. Denn Chora – die alles empfängt, aber von nichts etwas annimmt – gibt allem seinen Ort, ohne sich selbst je auf einen Ort festlegen zu lassen.
Beschreibt Chora nicht noch den eigentümlich ortlosen Ort des Sokrates, der alles vernimmt und nichts für sich behält? Ist Chora nicht gar noch „Ort“ einer Erzeugung der Philosophie, der dem Unterschied zwischen Mythos und Logos vorausliegt und selbst nicht mehr philosophisch reflektiert werden kann? Und der ungreifbare „Ort“, von dem aus das Geschlecht (genos und ethnos), die Stadt und der Staat begründet werden? Fragen, zu denen Derrida in einer brillanten Lektüre gelangt, in der das Verhältnis zwischen dem Platon der Texte und dem Platon des Platonismus radikal hinterfragt wird.