Das Asyl zum obdachlosen Geist

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John von Kellingrath, ein junger Mann aus bestem Hause, flüchtet sich in eine Nervenheilanstalt; die Handlung spielt um 1890. Er ist einer der Repräsentanten des obdachlosen Geistes, ein Asket, der den materialistischen Anforderungen seiner hochbürgerlichen Familie nicht gewachsen ist. Kellingrath hat seine Frau einst aus Pflichterfüllung geheiratet und verachtet sie wegen ihres berechnenden Charakters. Als sie gemeinsam mit seinem Bruder Johns Einweisung ins Irrenhaus betreibt, um die Verfügungsgewalt über sein Vermögen zu erhalten, ist das auf prekäre Art durchaus in seinem Sinn. Die Irrenanstalt erscheint ihm als ein Ort des Friedens; im Elfenbeinturm seiner Zelle will er ein ungestörtes Gelehrtenleben verbringen und Sören Kierkegaard übersetzen. „Garantierte Einzelhaft ist alles, was ich mir verlange: Meine Bücher, Schreibgerät, mein Quantum Tabak, das nicht klein ist, also ungefähr die Freiheiten, die man in zivilisierten Ländern politischen Sträflingen zuzugestehen pflegt.“

Exil, im Sinn von Austritt bzw. Vertreibung aus dem bürgerlichen Leben, ist auch Martina Wieds Grundmotiv – schon lange vor ihrer erzwungenen Flucht nach Großbritannien.
Ihr ganzes Leben lang sucht sie eine Antwort auf die Frage, wie ein anständiges Leben in einer moralisch dubiosen Gesellschaftsordnung gelingen kann. Das impliziert die Distanzierung von jener gesellschaftlichen Schicht, der sie selbst angehört, und die Ablehnung der rücksichtslosen Logik des bürgerlichen Wirtschaftssystems.
Martina Wied schrieb diesen Roman in den Jahren 1925/26, er erschien 1934 als Fortsetzungsroman in der Wiener Zeitung, eine Buchausgabe folgte erst 1950 unter dem Titel „Kellingrath“.