Das Wasser kocht sich zu Tode. Mein Leben im Abriss.

Band 1. Die frühen Jahre (1945-1966)

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Eigentlich hatte ich nie vor, eine Autobiographie zu schreiben, ist sie doch mehr Dichtung als Wahrheit. Außerdem schreibt heutzutage selbst die Donau ihre lange Geschichte auf. Ich scherze nicht! Wie kann ich mich mit ihr vergleichen, auch wenn ich oft in ihr geschwommen bin?
Wagen wir uns an unser Selbst (autos), wird es leicht peinlich. Fragen wir nach dem Leben (bios), verweigert die Gegenwartsphilosophie eine Antwort: Das sei ein zu weites Feld. Bedenken wir das Schreiben (graphein), werde ich zu hören bekommen: So schreibt man doch heute nicht mehr. Und morgen? Morgen werde ich vermutlich am Berg liegen, am Rande von Bonn mit Blick auf die schönen Holzlarer Lande.
Ich bin ein Mann des 19. Jahrhunderts, sofern ich nicht der Tang-Zeit entstamme oder aus Athen als Sklave geflohen bin. Ich komme also mit jedweden Mythen und Sagen von überall her. Wie Li Bai ist mir das Hyperbolische zu eigen. Insofern mag ich inzwischen doch dem Werbespruch „More is not enough „Folge leisten.
Ich nahe aus vielen Sprachen und aus viel mehr Traurigkeiten, denn dem Leben war Erlösung versprochen. Man traut eine solch große Tat weiterhin der Moderne zu, deren Versprechungen ein jedes Selbst noch haltloser haben werden lassen. Ist jegliches Schreiben daher lediglich eine letzte Art von Verständigung darüber? Über die Toten, die uns vorangehen, über die Toten, die uns folgen werden?
Warum sich dann selber belasten? Und ebenso die nach Heiterkeit verlangende Leserschaft? Ich sage manchmal, das Leben, unser Leben, habe eine Verantwortung. Es habe kein Recht mehr zu klagen, es sei unser unwürdig. Es solle sich lieber selber stellen.
Die großen Trinker hatten das große Getränk, die Melancholiker bemühten ihre melancholische Seele und die Spötter zürnten den Eltern, überhaupt zürnen zu dürfen. Wenn sie aber alle geschwiegen hätten, was wüßten wir dann über uns? Wir können nur böse sein, weil uns Böse vorangegangen sind. Eine Lebensbeschreibung als Poetik ist Kunde davon, selbst im Guten.
Wir hören auch, eine Biographe richte uns akademisch. So zumindest die Meinung kluger Frauen. Doch die Akademie hat uns längst gerichtet. Selbst in ihrem Tod hat sie nichts unversucht gelassen, ihre letzten Planken zu durchlöchern. Wir sind nicht allein in unserem Tun. Das ist unser einziger Trost.
Um den Tröstenden Trost zurückzugeben, habe ich mich ganz auf meine Erinnerungen verlassen. Ich habe wenig nachgeschlagen, nachgeschaut, ich habe lieber manchmal gefragt. So befragte ich Rudolf Rösch in Wien nach unserer gemeinsamen Verwandtschaft, Matthias Kubin in Dinkelsbühl nach unseren gemeinsamen Jahren in Salzbergen und Rheine, Ludger Funke in Drensteinfurt nach unserer gemeinsamen Gymnasialzeit. Ich befragte wenige Wegbegleiter also. Ich wollte niemanden zu tief entmutigen, auf ein Leben zurückblicken zu müssen, welches sich darin gefiel, uns zu viele Recken beizeiten genommen zu haben.
Schrieb ich gegen all die Verluste an? Mir behagte es, das Jahr, welches wir Corona nennen, chinesisch zuzubringen. Ich kehrte die Zeit in Bonn um. Ich zählte in meiner epidemischen Gefangenschaft die Stunden so wie in Shantou auch: Die rheinländische Nacht mutierte zum chaozhouer Tag. Ich arbeitete in der Dunkelheit und ruhte wenig unter dem Sonnenlicht, stets in der eiligen Erwartung, früher an meine neue Alma Mater in der Provinz Guangdong heimkehren zu können.
So wurde der erste Band fertig. Band 2 wird den Titel „Die Lage ist ausgezeichnet“ tragen und die Jahre 1966 bis 1985 behandeln. Band 3 und Band 4 mögen im Untertitel „Die Bonner Jahre (1985-2011)“ bzw. „Die chinesischen Jahre (2011 bis?)“ lauten. Warum nicht alle Erinnerung in einen einzigen Band verpacken?

Lu Xun meinte einmal, alles Schreiben entstehe aus der Erinnerung. Wir schrieben, weil wir nicht vergessen könnten. Wenn ich nicht die Tinte und die Taste bemühte, würde ich folglich die Verstorbenen dem Vergessen anheimgeben. Wenn ich nicht schriebe, wären die Toten noch töter. Aber solange sie leben, mögen sie vielleicht nicht lesen wollen, was ich meiner Verantwortung unterstelle.

Dieser erste Teil handelt von den Verschollenen. Wer noch nicht verschollen ist, wird bald verschollen sein, so wie ich. Bis dahin hat uns nicht nur das Leben dahingerafft, sondern zuvor schon der Gedächtnisschwund. Also werden wir bei der Publikation nicht mehr aufbegehren, was über uns gesagt ist. Wir werden dankbar sein, daß wir nicht nur Asche sind, sondern auch noch Schriftzug bleiben.
All dem kann aber nur so sein, weil Nachgeborene mir zurieten, etwas aufzusetzen, dessen ich schließlich doch auch bedurfte: ein Nachdenken über die Strudlhofstiege von Wien. Da lauten die letzten, von mir vielfach verarbeiteten Verse des Heimito von Doderer:
Viel ist hingesunken uns zur Trauer
und das Schönste zeigt die kleinste Dauer.

Im Sommer 1968 stand ich dort mit der einst schwarz-, heute weißhaarigen Hiltraud Zuegg. Wir aßen Kirschen, die Kerne umkreisten uns am Boden. Danach stand ich dort mit meinem Wiener Groß-Cousin, dem Maler Rudolf Rösch, zu guter Letzt mit Li Bai und seinen besungenen Schönen. Wir alle verständigten uns schnell auf den Kummer unserer Endlichkeit.
Und mit wem stehe ich heute dort? Mit meinem Bruder Matthias, der seit mehr als einem Jahrzehnt nach diesem und dem kommenden Werk verlangt. Später wird es einmal der Verleger Walter Fehlinger sein, der nicht fehlging, mich seit Jahren zur Niederschrift meines Lebens zu ermutigen, und mir für die reichen Nächte den besten Veltliner zusteckte. Trunken war ich am Morgen nie, denn alle guten Dinge wollen einmal ihr Ende finden. So auch ein Weinglas, wenn der mannhafte Schnaps (ab 52) aus China nicht zur Verfügung steht und der liebliche Zirbellikör (38) aus Oberösterreich auf sich warten läßt.
So hat außer der Akademie niemand Einwand erhoben gegen mein Unterfangen? Doch schon lang, bevor die scheinbar unliebsamen Dinge ihren Lauf zu nehmen begannen. Die Warnung daheim lautete ganz taoistisch, man stelle seine Seele nicht öffentlich aus. Man nehme sich aus allem zurück in seine Unergründlichkeit. Man trete nicht vor die Tür. Und so hätte ich den Himmel über mir dennoch erkennen können?
Hier treffen sich Akademie und chinesischer Geist: Es gibt keinen Sinn, den wir suchen können wie das Glück. Beides sei kein Paket, welches wir auf der Post aufgeben oder von dort abholen. Ich hätte also geschehen lassen sollen (wuwei)? Doch ich kann nur vom Tod her denken. Und mit ihm ist etwas passiert. Es gibt also immer noch etwas anderes als gerade das, was vor unseren Augen liegt. Etwas trat ins Leben und wurde abberufen. Zu welchem Zweck, das eine und das andere? Dazwischen muß ja etwas geschehen sein! Und darüber sollte sich reden lassen, die besungenen Dinge hätten ja sonst keine Heimat.