Der erste Rang

Erzählung

von

NACHBETRACHTUNG
„Die Entdeckung eines neuen Gerichts
macht die Menschheit glücklicher
als die Entdeckung eines neuen Sterns.“

Das behauptete jedenfalls 1826 der französische Schriftsteller Anthelme Brillat-Savarin in seiner „Physiologie des Geschmacks“.

Betrachtet man das schriftstellerische Oeuvre von Käthe Miethe, könnte man in Bezug auf die Erzählung „Der erste Rang“ Parallelen ziehen.
Beim Carl Hinstorf Verlag Rostock 1957 erschienen, ist dieses Buch, aus welchen Gründen auch immer, nie wieder aufgelegt worden.
So stellt es sich nunmehr als eine literarische Entdeckung dar, eine sehr kostbare sogar, weil Käthe Miethe von Anfang an eine Spannung aufbaut, die sich quasi mit dem Ausgeben des Gewinns am Ende der Erzählung erst auflöst.
Peter Konow, ein alter Fischer und Matrose aus Althagen auf dem Fischland, dessen Leben von Not und Entbehrungen gekennzeichnet war, gewinnt im Lottospiel eine halbe Million Mark.

Ahrenshoop, wozu auch der Ortsteil Althagen gehört, ehemals zu Anfang des 20. Jahrhunderts eine Maler-kolonie, deren Traditionen durch Kunstausstellungen und vielfältige Kulturveranstaltungen immer noch gepflegt werden, wurde vor seiner Entdeckung durch den Schweriner Landschaftsmaler Carl Malchin das „povere Dörp“, das „arme Dorf“, genannt.
Das war im Jahr 1887.
Seitdem hat sich Ahrenshoop als einstmals karges Fischerdorf in den Dünen an der Ostsee mit seinen Sandwegen über die Künstlerkolonie von Anfang des letzten Jahrhunderts bis heute zum prosperierenden Ostseebad entwickelt.

Käthe Miethes Verdienst besteht darin, dass sie auch das Leben der einfachen Leute, der Einwohner, aufgeschrieben hat, die nicht unbedingt von dem Geld der „Badegäste“, die nach den Malern diesen einmaligen Landstrich zwischen Bodden und Meer für sich entdeckten, profitieren.
So auch der Fischer Peter Konow, der auf dem Weg nach Leipzig, wo er den Gewinn abholen soll, sein Leben Revue passieren lässt, das gekennzeichnet war durch Entbehrungen, Hunger und Not, harte Arbeit und vor allem durch den größten Verlust, den Tod seiner Frau und seines Sohnes.
Wie dringend hätte er nur einen winzigen Bruchteil des Geldes gebraucht, das ihm nun ausgezahlt werden soll. Die ständigen finanziellen Sorgen sieht Peter Konow auch als Ursache für den Tod seiner geliebten Lisbeth. Sie stirbt an Schwindsucht, ausgelöst durch die Hungerjahre.
Und wie dringend hätte er das Geld für seine Ausbildung als Nautiker benötigt, dann wäre er als Steuer-mann zur See gefahren und hätte sich diese Plackerei als Ma¬trose an Bord erspart, abgesehen von der ständigen Arbeitssuche überhaupt. Seine Eltern waren nicht in der Lage, ihn zu unterstützen, im Gegenteil, ihn hätte es mit Stolz erfüllt, ihnen zu helfen.
Einmal, so glaubte er, bot sich ihm die Chance, als er als Vollmatrose auf einer Brigg nach Spanien anheuerte.
„Mutter wollte gern im Sommer vermieten, um die schlimmsten Sorgen loszuwerden. ,Es fehle ein zwei-tes Bett, flüsterte sie, weil Vater in der Kammer schlief. Eine Matratze gehört aber dazu. Mein Kopfkissen kann ich im Sommer gern entbehren, das brauche ich nicht, aber ich muss Bezüge haben. Die Sommergäste bezahlen für jedes Bett in der Woche acht Mark; mache ich Frühstück und bereite Mittagessen vor, während sie an den Strand gehen und baden, geben sie die Woche sogar zehn Mark!‘“
Doch nicht weit von Cherbourg im Ärmelkanal geriet die Brigg auf Grund, Konow war froh, mit dem Leben davongekommen zu sein.

Zu spät und völlig unverdient, so scheint es ihm, ist er über Nacht reich geworden.
„Geld im Alter ist wie Schnee im Juni“, heißt ein chinesisches Sprichwort. Denn was nützt das Geld, wenn er keine sinnvolle Verwendung dafür hat, ja, sich nicht einmal darüber freuen kann.
Inzwischen hat er ein Alter erreicht, wo er sich halbwegs in seinem Katen zur Ruhe setzen kann, sich billigen Tabak für seine Pfeife als einzigen Luxus leistet und zufrieden ist, wenn er zu seinem Knust Brot auch noch Schmalz zum Schmieren hat.
Seine Umwelt sieht das völlig anders, sie scheint sich so über die halbe Million zu freuen, wie man es ei-gentlich von ihm selber erwartet hätte. Denn als sich die Nachricht des ersten Rangs wie ein Lauffeuer im Dorf verbreitet, flammen auch sofort etliche Phantasien auf, was man mit dem Geld alles anstellen könne.
Dass dabei nicht das Wohl des Gewinners im Vordergrund steht, liegt auf der Hand, denn Konow lebt zwar in dem Dorf, spielt dort aber im gesellschaftlichen Leben keine Rolle.
Doch plötzlich, über Nacht reich geworden, steht er im Mittelpunkt des Interesses, denn, bekannt durch seine gezwungenermaßen spartanische Lebensweise, rechnet sich der eine oder andere im Ort hektisch aus, mit dem Gewinn von diesem alten Kauz sein eigenes Leben aufzubessern. Man rennt ihm buchstäblich die Tür seines baufälligen Katens ein, und auch die Presse erscheint sofort. Die Jagd nach dem Geld, Wohlstand und Ansehen hat begonnen.
Allein Peter Konow scheint davon eher peinlich berührt und nimmt diesen plötzlich entfesselten Tanz um das goldene Kalb gelassen hin. Er will für seinen Neffen Jürgen nur einen echten Lederfußball in Leipzig kaufen, sonst nichts.

Meisterhaft gelingt es Käthe Miethe, ein authentisches Bild des Peter Konow nachzuzeichnen, indem auch die ungeteilte Sympathie der Autorin für ihren Helden mitschwingt, dem dieser unerwartete Geldsegen in seiner Bescheidenheit und Nüchternheit nichts anhaben kann.

Käthe Miethe wurde am 11.3.1893 in Rathenow geboren. Ihr Vater, der Physiker und Chemiker Adolf Miethe, seit 1899 Professor an der Technischen Hochschule Berlin, war einer der ersten „Badegäste“, der sich 1901 die Büdnerei Nummer 10 für die „Sommerfrische“ in Althagen kaufte und das Segeln auf dem Saaler Bodden als Hobby betrieb.
Das war für die einheimischen Fischer schon ungewöhnlich, denn sie fuhren mit ihren Zeesen hinaus, um durch den Fischfang ihre Existenz zu sichern.
1916 kaufte Adolf Miethe von dem Maler Hugo Jäckel die Althäger Büdnerei Nummer 54 für seine Tochter Käthe, die unter ihr eigenes Strohdach jedoch erst 1939 einzog und bis zu ihrem Tod am 12.3.1961 als freischaffende Schriftstellerin dort lebte.
Ihre letzte Ruhe fand sie auf dem Wustrower Friedhof neben ihrer Mutter Marie.

Auch Käthe Miethe bevorzugte in ihrem Katen einen einfachen Lebenssstil, sie wetterte auf den Ortsteil Ahrenshoop, der ihr viel zu mondän schien.
So ist es ganz in ihrem Sinne, dass die seit 2007 nach ihr benannte Bibliothek im Bernhard-Seitz-Weg 3 nur ca. 20 Meter von einem Graben entfernt liegt, der die Grenze zwischen Althagen und Ahrenshoop markiert, übrigens auch zwischen Mecklenburg und Vorpommern. Aber immerhin in Käthe Miethes bevorzugtem Althagen, an der ruhigeren Boddenseite gelegen, wo sich auch heute noch ländliche Beschaulichkeit entdecken lässt.

Der Blick über die Boddenwiesen ist auch Inspiration für den Dändorfer Maler und Grafiker Friedrich Wil-helm Fretwurst, der dieser Neuauflage mit seinem Bild „Bei Westwind“ ein neues Gesicht gegeben hat.
1936 in Althagen geboren, sind die Einflüsse der besonderen Lichtverhältnisse des schmalen Landstrichs zwischen Bodden und Meer in seinen Werken unverkennbar.
Für die Erstausgabe dieser Erzählung hatte der Ahrenshooper Grafiker Georg Hülsse den Schutzum-schlag entworfen.

Fischland, im August 2013

Cornelia Crohn