Der Fortschritt des Erinnerns

Mit Walter Benjamin und Dani Karavan in Portbou

von

Vor 70 Jahren, im September 1940, nahm sich Walter Benjamin im spanischen Portbou nahe der französischen Grenze auf der Flucht vor dem Naziregime das Leben. Seinem Denken und dem Andenken an sein Schicksal widmete der 1930 geborene, in Tel Aviv und Paris lebende Künstler Dani Karavan eine Denkmalanlage, die 1994 eröffnet wurde. Sie besteht aus mehreren Stationen und bezieht auch das Schicksal von vielen anderen ein, die dort ihr Leben verlieren mußten oder retten konnten.
„Der Fortschritt des Erinnerns“ macht auf fünf verschiedenen Wegen und mit vielen Fotos der Autorin Dani Karavans Denkmalanlage als eine Stätte der Einkehr, der Selbstbesinnung und der Auseinandersetzung nachvollziehbar: mit dem Ort, mit der Geschichte, mit der Gegenwart. Der Künstler hat für dieses Buch einige, bisher unveröffentlichte Zeichnungen und Aquarelle zur Verfügung gestellt. Indem Karavans einzelne Stationen sozusagen das Hier markieren und den Blick auf ein Dort öffnen, wird zugleich auf die Zukunft hingewiesen, und das betrifft die Frage, wohin dieses Erinnern uns führen kann, und welche Rolle wir als Zuschauerinnen oder Zuschauer spielen.
„Der Fortschritt des Erinnerns“ rekonstruiert einerseits das architektonische und städtebauliche Potential einer solchen Gedenkstätte für einen Ort abseits touristischer Zentren und reflektiert andererseits das In-Vergessenheit-Geraten der Debatte zum Thema Erinnern und Verdrängen. Eine wesentliche Frage in diesem Zusammenhang ist die Vereinnahmung des Gedenkens durch politische Interessen sowie die Vereinbarkeit von Kulturtourismus und Massentourismus. Der Begriff ‚Fortschritt‘ – im Sinne von Walter Benjamin in Verbindung mit dem Begriff ‚Verfallszeit‘ – begleitet dazu die entsprechenden philosophischen Gedankengänge.
In einem Prolog wird an Pablo Picassos ‚Guernica‘ und Constantin Brâncuşis Denkmalanlage in Târgu Jiu – beides 1937 entstanden – der Stellenwert des Kunstwerks im Zusammenhang mit dem Erinnern hinterfragt. In einem Epilog wird ergänzend dazu an künstlerischen Beiträgen von Hans Kupelwieser und Jochen Gerz und mit theoretischen Hinweisen auf Literatur, Philosophie und Film das Vergessen in diesem Prozeß thematisiert. „Der Fortschritt des Erinnerns“ verfolgt eine Entwicklung: wie das Kunstwerk zum Begriff wird, der Begriff zum Denkmal, das Denkmal zur Werbung. Der Verbrauch und die Vereinnahmung durch Politik und Konsum in Form von Tourismus betreffen offene Fragen der Zukunft von Portbou. Das, woran erinnert werden soll, droht auf diese Weise vergessen zu werden. Aber gerade hier setzt die Kunst in ihrer Wandlungsfähigkeit an und verrät etwas über die Unermeßlichkeit ihrer Geheimnisse, Dani Karavans Denkmalanlage in Portbou ist dazu das auf mehreren Wegen erfahrbare Beispiel.

Die Autorin: Sigrid Hauser, geboren in Meran. Universitätsprofessorin für Architekturtheorie an der Technischen Universität Wien. Bücher und Texte zur Architektur von Lois Welzenbacher, Curzio Malaparte, Tadao Ando, PAUHOF, Peter Zumthor u.a. Zahlreiche Publikationen zu Themen der Konzeptions- und Rezeptionsästhetik, Schwerpunkte: Fotografie, Film, Kunst, Literatur und Politik im Zusammenhang mit Architektur. Zuletzt ist erschienen: „Kafkas Raum im Zeitalter seiner Digitalen Überwachbarkeit“, Löcker, Wien 2009.