Der Kinderkreuzzug

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Ob er sich jemals so ereignet hat, wie die Chronisten uns berichten – darüber sind die Historiker uneins. Etwa zwei Dutzend verlässliche Quellen allerdings sprechen von verschiedenen Zügen tausender Kinder, Jugendlicher und Erwachsener aus zumeist ärmlichen Verhältnissen, die im Frühjahr 1212 im Rheinland und in Niederlothringen sowie im Raum Chartres waffenlos und unter der Führung von charismatischen Jugendlichen – etwa Stefan von Cloyes und Nikolaus von Köln – nach Jerusalem aufbrachen, „um das heilige Grab von den Sarazenen zu befreien“. Bis ans Mittelmeer gelangten nach einer verlustreichen Überquerung der Alpen allerdings nur wenige Teilnehmer; und wer überlebt hatte, wurde in Pisa oder Marseille als Sklave verkauft.
Marcel Schwobs Annäherung an diese Ereignisse ist in der Literatur des Fin de Siècle einzigartig: In einem multiperspektivischen Verfahren kommen acht, sowohl historische als auch fiktionale, Personen monologisch zu Wort: ein Goliard, ein Aussätziger, die Päpste Innozenz III. und Gregor IX., ein gläubiger Muslim sowie die Kinder selbst, die das Geschehen von ihrem jeweiligen Standpunkt aus beschreiben und in philosophisch-theologische Exkurse betten. Auf die Frage, wer die eigentliche Verantwortung für die Katastrophe trägt, finden sich dabei höchst unterschiedliche Antworten.