Der Mann, der den Regen fotografierte

Roman

von

Hendrik Cramer ist Locationscout: Für eine Filmproduktion ist er nach Belém in Brasilien geflogen, ausgestattet mit Notebook und Kamera und dem ersten Skript eines Spielfilmes.
Er hat den Auftrag, Drehorte für den Film auszuwählen, der während des berühmten Círio de Nossa Senhora de Nazaré gedreht werden soll, dem religiösen Umzug zu Ehren der Heiligen von Belém, an dem jährlich rund 2 Millionen Menschen teilnehmen.
»Cramer hatte schon immer die Fähigkeit besessen, die Welt durch das Objektiv einer Kamera zu erleben und dabei nach ganz kurzer Zeit zu vergessen, dass er zwischen sich und der Welt eine Optik hatte. Er war vielleicht in vielerlei Hinsicht ein Kind, dem man an manchen Tagen noch die Schuhe zubinden musste, aber er war ein begnadeter Kameramann und Fotograf, dem sich die technische Apparatur wie eine natürliche Verlängerung des Auges und der Hände anpasste. Cramer spielte auf seiner Kamera wie ein Pianist von Weltklasse auf seinem Flügel. Und natürlich tat er deshalb viel mehr, als er eigentlich nötig gehabt hätte, um seinen Job zu erfüllen. Denn wie immer beim Drehen oder Fotografieren geriet er beinahe übergangslos in einen Flow, der ihn nicht wieder entließ, bevor er das Gefühl hatte, wirklich alles im Kasten zu haben.«
Hendrik Cramer ist in Brasilien in eine ganz andere als die europäische Welt eingetaucht. Allent­halben begegnen einem Mythos und Mysteriöses, die Armut ist erschlagend, im Wortsinne auch die Gewalttätigkeit, die schiere Physis der Menschen hier. Er hat sich seinerseits einen Ortskundigen als Assistenten gemietet: Wim. Der Holländer ist nicht ganz durchschaubar, offenbar war er eine Art Söldner, hat sich hierher zurückgezogen. Aber er kennt die wilde, für europäische Gewohnheiten faszinierende wie schockierende Stadt mit ihren ungeheuerlichen sozialen Differenzen. – Wim warnt Hendrik Cramer nachdrücklich, nicht alleine in den »Dschungel« dieser Großstadt zu gehen, seine Kamera nicht offen zu zeigen, überhaupt Wertsachen im Hotel einzuschließen. Aber diese Warnungen schlägt Cramer in den Wind, er ist ganz in seinem Element:
»Er schaute im Display der Nikon nach und sah, dass er 1309 Fotos gemacht hatte. Okay, das war gutes Material, das war sicher tolles Material, aber die andere Hälfte der Arbeit stand noch bevor, denn er musste alles auf dem Mac sichern und sichten. Er musste auswählen, verwerfen und am Ende daraus sowas wie einen möglichen Weg zusammenstellen.
Der Regisseur und sein Team würden dann schon vor Beginn der Dreharbeiten alles beisammen haben und sich am jeweiligen Set orientieren können, ohne zuvor selbst dort gewesen zu sein. Das einzige Problem waren Shots, die aus erhöhter Position erfolgen mussten, etwa von Dächern oder Balkonen. Diesen Leitungsdschungel, der von den Häuserfronten zu den Kabelmasten auf der Straße und dann entlang der Straßen verlief und unweigerlich immer im Bild sein würde. Vielleicht, dachte er, sollte man das anfangs einführen, damit der Zuschauer es dann später im Film als wiedererkennbares Element im Stadtbild begreifen und einordnen würde. Hör auf, dachte er, du machst dir da Gedanken, die sich allenfalls der Regisseur und der Kameramann machen sollten. Du dokumentierst das nur.«
Dann aber kommt alles anders. Hendrik Cramer wird, eher durch einen Zufall denn aus Berech­nung, entführt. Und Peter H. Gogolin benutzt das farbenfrohe Belém und die unberechenbare Menta­li­tät Brasiliens nicht einfach als exotische Kulisse, sondern er führt seine Leser tief hinein in die Extreme der völlig andersartigen Welt. Der Leser gerät in die Mixtur aus christlicher Religiosität und Aber­gläubigkeiten, aus Anspruch auf Hightech-Dinge und Faustrecht, aus Bandenkämpfen unter Bettlern und sich verschottender Bürgerlichkeit, aus überhitzter Sensibilität und Brutalität, in der ein Menschenleben nichts zählt. So auch das von Cramer, das in einem Netz aus seidenen Fäden hängt.
»Seit sie auf der Straße lebt, ist sie ständig müde. Doch Estelle klagt nicht darüber, denn die Müdig­keit ist normal, wenn man niemals durchgehend schlafen kann. Selbst dann, wenn man schläft, ist man halb wach. Man ist niemals in Sicherheit und muss auf der Hut sein. Deshalb schläft man eigentlich gar nicht. Man geht nur für kurze Zeit beiseite, tritt in die graue Kammer. Sie weiß nicht, ob die anderen es auch so machen, aber Estelle hat es für sich die graue Kammer genannt. Sie kann dort hineingehen und sich ausruhen, bleibt aber mit der Umgebung verbunden, sodass sie hört, wenn sich jemand nähert. […] Der Regen ist zuerst nur ein Geräusch in den Bäumen, aber Estelle hat es sofort gehört, steht auf und macht sich auf den Weg.«
Während es offen bleibt, ob gute Geister Hendrik Cramer retten werden, hat der Leser abenteuer­liche Welten kennenzulernen. Und er wird mit einem veränderten Weltbild aus einem beeindruckenden Panoptikum von Figuren und Lebensformen von seiner Lesereise nach Südamerika zurückkehren.