Der Morgenrötemensch

Und andere wissenschaftliche Mythen aus der Biologie

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In diesem Buch geht es um Irrtümer, Fälschungen und Betrug in der Biologie. Für den einen oder anderen mag es daher Wasser auf die Mühle seiner Skepsis gegenüber den Naturwissenschaften sein, einer Skepsis, die im Gegensatz zu früheren Jahrzehnten, als Leistungen der Wissenschaft noch gebührend bestaunt und ihre Vertreter hoch geachtet wurden, heute merkwürdigerweise immer mehr um sich greift.
Wie zutiefst ungerecht und für unser aller Wohlergehen gefährlich derartige Haltungen sind, soll hier nicht weiter dargelegt werden. Nur an eine Tatsache sei erinnert, die zwar jeder kennt, die aber immer wieder mit geradezu unglaublicher Blasiertheit ignoriert wird: Unsere gesamte Zivilisation, unser heutiger Wohlstand beruhen letztlich auf den Leistungen der Naturwissenschaften, der Physik, der Chemie, der Geo-logie und immer mehr auch der Biologie, sowie deren Ausnutzung durch Technik, Landwirtschaft und Medizin. Natürlich ist unsere jetzige Lebensqualität das Werk aller Arbeitenden vieler Generationen. Aber deren Mühen wären nicht annähernd so erfolgreich gewesen, wie sie es tatsächlich waren, hätten Naturwissenschaftler und Techniker nicht immer wieder neue Wege gefunden, um aufgewendete Arbeit produktiver werden zu lassen und sie zu vorher nicht erhofften Ergebnissen zu führen. Kaum jemand möchte auf die Annehmlichkeiten des Lebens im heutigen Europa verzichten. Sogar die wenigen Abenteurer, die in die letzten verbliebenen Überreste unberührter Natur flüchten, um der von der Wissenschaft geprägten Zivilisation zu entfliehen, halten es dort in der Regel auf Dauer nicht aus, sondern kehren früher oder später wieder in ihre vertraute Umwelt zurück. Europäer betrachten es oft als Opfer, müssen sie einige Jahre ihres Berufslebens in einem Entwicklungsland verbringen. In vergangenen Jahrhunderten versuchten die Auswanderer, soviel wie möglich von ihrer Zivilisation nach Übersee mitzunehmen. Heute nutzen immer mehr Bewohner wissenschaftlich und technisch unterentwickelter Länder jede sich bietende Gelegenheit, in fortgeschrittenere auszuwandern, um an deren Vorzügen teilzuhaben, und das oft bedrückende Leben in ihrer Heimat hinter sich zu lassen.
Schließlich verdanken wir der Wissenschaft die nicht unwesentliche Tatsache, dass wir immer länger leben. Und dies zeigt ja wohl unwiderlegbar, dass sich unsere Lebensläufe in irgendeiner Weise angenehmer oder doch zumindest weniger beschwerlich gestalten als diejenigen der Menschen früherer Zeiten, als die Naturwissenschaften noch wenig entwickelt waren.
Natürlich kann man das alles als selbstverständlich hinnehmen. Aber wäre es nicht sinnvoller, uns unsere verbesserte Lebenslage gelegentlich zu vergegenwärtigen und uns darüber zu freuen, statt nur über die unvermeidlichen mit ihr verbundenen Nachteile zu mäkeln und vielleicht dem Berufsstand, der diese Fortschritte in erster Linie ermöglichte, statt Misstrauen und Skepsis ein ganz klein wenig Respekt entgegenzubringen?
Dass wir der Wissenschaft unendlich viel verdanken, ist die große wesentliche Wahrheit, aber es ist natürlich nicht die ganze Wahrheit. Zur ganzen Wahrheit gehört eben auch, dass sich unter den Naturwissenschaftlern zwar überdurchschnittlich viele in der einen oder anderen Weise ungewöhnlich begabte Menschen finden, dass sie sich aber ansonsten kaum vom Durchschnitt unterscheiden oder vielleicht nur dadurch, dass sie oft ein wenig eitler sind. Der einzelne Wissenschaftler kann sich genauso irren und getäuscht werden wie jeder von uns und ist der Versuchung, ihm nicht ins Konzept passende Tatsachen zu ignorieren oder hin und wieder ein wenig zu schummeln, nicht weniger, möglicherweise sogar mehr ausgesetzt als wir. Auch dies prägt den Wissenschaftsbetrieb. Um die Auswirkungen solcher menschlicher Unzulänglichkeiten geht es auf den folgenden Seiten.
Im 19. Jahrhundert herrschte die Überzeugung, die Pathologie sei der Prüfstein der Physiologie, erst durch die Kenntnis des Krankhaften verstünden wir das Normale. Vielleicht erhellen die hier geschilderten Irrtümer und Skandale auch ein wenig den normalen Wissenschaftsalltag und seine Antriebe. Bei allem Unerfreulichen, was sich dabei offenbaren wird, sollten wir aber nie vergessen, dass alle menschlichen Unzulänglichkeiten die Naturwissenschaft nicht daran gehindert haben, auf dem Wege der Lösung der „Welträtsel“ doch eine erhebliche Strecke zurückzulegen.

Auch in der Wissenschaft ist nicht alles Gold was glänzt. Zwar klären sich früher oder später wohl alle Irrtümer einmal auf, aber erstaunlich ist es doch, was oft über Jahrzehnte hinweg auch ernst zu nehmende Fachleute fälschlicherweise akzeptieren. Einige Kostproben hiervon finden sich in diesem Buch. Ist es zu glauben, dass es über 40 Jahre dauern sollte, bis die Anthropologen erkannten, dass der berühmte Schädel von Piltdown aus modernen menschlichen Schädelknochen und einem Affenunterkiefer fabriziert worden war? Musste es wirklich bis nach dem Zweiten Weltkrieg dauern, bis allen Medizinern klar war, dass die bekannten Abwehrfermente, von deren Existenz der Biochemiker Emil Abderhalden die Welt schon 1912 in Kenntnis gesetzt hatte, reiner Humbug waren?