Der Wunsch

Novelle

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Hermann Sudermann (1857–1828) war neben Gerhart Hauptmann der erfolgreichste naturalistische Dramatiker und Romancier der Wilhelminischen Ära. Doch längst ist sein Werk, insbesondere das erzählerische Frühwerk, das einst als eine Schule literarischer Anthropologie angesehen wurde, vergessen. Vor allem gilt dies für seine zu Lebzeiten vielfach aufgelegte Novelle „Der Wunsch“ (1888), in der er Paul Heyses gattungspoetische Forderung, einen einzelnen Konflikt gleichsam in der Isolierung des Experiments zu schildern, mustergültig verwirklicht hatte. Anhand des Beispiels einer jungen Frau, die am Krankenbett ihrer älteren Schwester deren Tod wünscht, weil sie insgeheim deren Ehemann liebt, beschreibt Sudermann das Schicksal eines plötzlich ins Bewusstsein durchbrechenden Wunsches. Überwältigt von der Macht des Wunsches und der Unlösbarkeit ihres sittlichen Konflikts, begeht sie Selbstmord. Indem der hinzugezogene Stadtarzt nach der Lektüre ihrer Tagebücher das rätselhafte Motiv ihrer Handlungsweise aufklärt, weist Sudermanns Fallerzählung schon auf die psychoanalytische Praxis von Sigmund Freud, in der diese Novelle wiederholt als Erklärungsmuster und Projektionsfläche herangezogen wurde.