Die eingemauerte Nonne

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Risse im Putz sind niemals grundlos. Wenn sich Umrisse abzeichnen, die nicht zufällig sein können, vielmehr auf zugemauerte Türen oder Fenster schließen lassen, dann ist die Fantasie gefragt. Mit ihrer Hilfe erschließen sich mitunter verschlossene Wandöffnungen wie von selbst, vor allem, wenn dem alten Gemäuer eine sagenhafte eingemauerte Nonne nachgesagt wird, die dort ruhen soll (Teil I: Totenruhe). Allerdings nicht mehr lange. Zwei angeregte Fantasten, denen die minimal-invasive Methode der Wanderkundung versagt bleibt, versuchen es auf ihre Weise in die besagte Wand einzudringen. Auf dem Dachboden überm Chorgewölbe der Stiftskirche schaufeln sie von oben die Sandfüllung der metermächtigen Füllwand beiseite und hoffen auf diesem, von der Öffentlichkeit unbemerkten Weg zur Klause und dem späteren Grab jener eingemauerten Nonne vorzudringen.
(Teil II: Ruhestörung) Tatsächlich, sie stoßen bei ihrem Einstieg von oben auf ein Gewölbe. Da es nur aus Holzbrettern zusammengesetzt ist, gelingt es ihnen einzubrechen, im wahrsten Sinne des Wortes. Fast wäre einer der investigativen Eindringlinge selbst in das Grabloch gefallen und vom nachrutschenden Sand der Füllwand verschüttet worden. Glücklicherweise konnte er noch im letzten Moment von seinem Freund gerettet werden, – leider nicht das entfallene Handy, das sie bereits vor dem Einstieg hineingehalten hatten, um einige Fotos zu machen. Merkwürdigerweise zeigte sich auf dem Display, bis auf eine Pritsche mit einem aufliegenden inhaltsleeren Stofflappen, nur eine verwaiste Kammer. Das Grab war also leer.
Und nicht nur das. Als die beiden Laienforscher vom Dachboden zurückkommen, ist unterdessen die Stiftskirche geschlossen. Folglich werden sie die Nacht in der dunklen Kirche verbringen müssen. Selbst aufgeklärte Männer des 21. Jahrhunderts zeigen sich bar jeder Vernunft, als sie gegen Mitternacht Schritte über der Balkendecke des Kirchenschiffs hören. Schlimmer noch, ein neu entstandener Riss oben im Chorgewölbe scheint zwingend auf den Spuk jener Untoten hinzuweisen, nach der sie im Grab vergeblich gesucht hatten. Ihr unprofessionelles Vorgehen erfährt allerdings noch einmal eine positive Wendung, indem anderntags die absehbar kollabierende Füllwand wieder aufgefüllt wird, so dass die nach außen strebenden Gewölbekräfte aufgefangen werden können.
Zu einer wissenschaftlich fundierten Aussage reichen ihre denkwürdigen Erkenntnisse freilich nicht aus. Die offensichtlich stiftengegangene Stiftsnonne gibt Stoff für einen Roman, der mit der großen zeitlichen Distanz – die Geschichte handelt im fernen Hochmittelalter, im 13. Jahrhundert – viel Spielraum für die Fantasie zulässt, und darauf angelegt ist, das vorgefundene Phänomen des leeren Grabes zu erklären und mit erzählerischem Inhalt wiederzubeleben (Teil III: Wiederbelebung). Was anderes als eine schrullig-vergnügliche Schauergeschichte kann dabei herauskommen? Schrecklich und gruselig, auf jeden Fall spannend geht es weiter. Nach Mord- und Totschlag und einer vergeblichen Reise nach Jerusalem, gibt es für die unfreiwillige Novizin dennoch ein neues Leben nach dem Grab, das ihr bereits zugedacht war. Fast zu schön, um wahr zu sein? Plausibel alles, doch Belletristik halt!