Die Einladung

von

Es war gegen 15 Uhr eines Tages Anfang September 1992. Die Sonne schien und der Wind schlief. Eine Wildtaube gurrte in den Ahornen an der Parkmauer. Auf der Freitreppe vor der offenen zweiflügeligen Tür zur Halle stand ein Mann. Er trug einen hellen Leinenanzug, sein volles, streng geschnittenes Haar war weiß. Das Schloss hinter ihm, hochfenstrig im Erdgeschoss, war schmalbrüstig, weder breit noch tief, ein Landjunkersitz. Es gehörte seit kurzem ihm, ein Gelegenheitskauf – alles in seinem Leben war gelegentlich. Auch dass er hier stand und auf seine Gäste wartete. Er wollte, sein Interesse am Treffen sei flach, ebenerdig, ein Spiel ohne Einsatz, alle Jetons grau und also nicht einwechselbar. Kein Gewinn, kein Verlust. So hatte er sein Leben lang sein Leben gespielt. Jagdflieger, Ritterkreuzträger – das Eichenlaub verschenkt, geflochtene Schulterstücke -, das Silbergeflecht abgerissen, der Galgen bereit -, statt seiner sein Henker am Strang. Danach taubes Geflecht der Jahre, wirr und wahr, das Wirre nicht wahrgenommen und das Wahre auf den Müll des Wirren geworfen. Müll schmerzt nicht, weder im Gehirn noch in dem, was Herz heißt. Winfried von Grauheim hat schmerzfrei gelebt. Er glaubt es, das einzige, was er glaubt. Und das winzige, was er bezweifelt. Den Zweifel hat er in eine abseitige Kammer des Gehirns eingesperrt.
Nun stand er also hier und wartete auf Leute, Fremde, die ihm nah – soweit er Nähe vertrug – gewesen waren damals, vor Jahrzehnten.

Neu
Jurij Brìzan
Die Einladung

Eine Novelle mit bekannten Gestalten der Hanusch-Trilogie: „Der Gymnasiast“, „Semester der verlorenen Zeit“ und „Mannesjahre“. Jede steht für eine eigene, nicht austauschbare Geschichte und für eine in einem halben Menschenalter erworbene Lebenskenntnis.
Im Mittelpunkt befindet sich der im 2. Weltkrieg hochdekorierte Jagdflieger Oberst Winfried von Grauheim. Er hat sechsunddreißig Jahre Leben beziehungslos irgendwo nirgendwo in der Welt verloren. Indem er bewusst dieses mit dem Leben ihm einst naher Menschen – u. a. Felix Hanusch, Banknachbar im Gymnasium, und Beate Mjetk, Geliebte und Verlassene – konfrontiert, findet er sich und ein Stück Leben wieder.
Der Autor bietet fassettengleiche Momentaufnahmen aus deutsch-deutscher Geschichte.