Die Revolte der Mittelklasse

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Trotz zunehmender ökonomischer Krisen ist das klassische Industrieproletariat im Westen nicht die Hauptkraft des Widerstands gegen den Neoliberalismus. Mehr noch: Die Arbeiter sind derzeit vor allem darum bemüht, ihre Arbeitsplätze zu erhalten und sich gegen Zeit- und Leiharbeiter abzugrenzen. Aber das traditionelle gesellschaftliche
Gefüge rutscht weg. Die untere Mittelschicht wird zunehmend prekarisiert; hochqualifizierte Arbeitskräfte der wissenschaftlich-technischen Intelligenz sehen sich heute mit
zunehmender sozialer Deklassierung konfrontiert.
Sowohl Globalisierungsproteste als auch die Occupy-Bewegung sind Ausdruck einer Revolte des Mittelstands gegen die Auflösung ihrer bisherigen gesellschaftlichen Stellung. Ob diese Protestbewegungen allerdings jemals zu einer wirklich systemsprengenden Kraft werden, ist fraglich, solange sie sich einem organisierten Widerstand ver-
weigern.
Wie können sich die drei großen gesellschaftlichen Gruppen – das verbliebene Industrieproletariat, der prekarisierte Mittelstand und die bereits marginalisierten Randgruppen – politisch und organisatorisch so entwickeln, dass sie im marxschen Sinne von der Klasse an sich zur Klasse für sich werden – und damit die Grundlage einer neuen Gesellschaft setzen können?

Boris Kagarlitzki, geboren 1958 in Moskau, gehört zu den einflussreichsten marxistischen Theoretikern im heutigen Russland. Mitte der siebziger Jahre studierte er
am staatlichen Institut für Dramatische Kunst (GITIS), wurde jedoch wegen seiner Beteiligung an der linken Samisdat-Zeitschrift Levy Povorot (Linke Politik) zwangsrelegiert und 1982 verhaftet. Nach seiner Haftentlassung Ende 1983 setzte er sein Studium fort, das er fünf Jahre später abschloss.
1990 wurde er als Kandidat der Sozialistischen Partei in den Moskauer Stadtsowjet gewählt. Mit Gleichgesinnten gründete er 1992 die Arbeitspartei, eine radikale trotzkistische Gruppe. Diese politische Aktivität sowie seine Opposition gegen Jelzin führten im Oktober 1993 zu seiner erneuten Verhaftung. Internationale Proteste verhalfen wenig später zu seiner Freilassung. Von 1994 bis 2002 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Vergleichende Politische Studien der Russischen Akademie der Wissenschaften. Nach seiner Promotion lehrte er Politische Wissenschaften an
der Moskauer Staats-Universität und Soziologie an der Russischen Akademie der Wissenschaften. Seit zehn Jahren leitet Kagarlitzki das Institut für Globalisierungsstudien und soziale Bewegungen in Moskau.