Dürre Engel

von

Ungarn, eine Kleinstadt in den 1980er-Jahren, die Zeit des Gulaschsozialismus. Die 40-jährige Volksschullehrerin Lívia wartet nach einem Herzinfarkt im Krankenhaus auf ihren Prozess – sie hat ihren Ehemann Öcsi im Affekt erstochen. In der Rekonvaleszenz geht sie der Frage nach, wie es so weit kommen konnte, was zu der Tat geführt hat, an welchem Punkt ihr Leben völlig aus der Bahn geraten ist. Ihre Erinnerungen sind wie Glasscherben, der verzweifelte Versuch, Bruchstücke ihrer Vergangenheit zu sammeln und zu retten. Und so erzählt sie in Rückblenden, wie sie ihren Mann, den vielversprechenden Athleten, kennenlernte, wie sie ihn als Jugendliche ihrer Freundin Kati ausspannte und bereits als Studentin geheiratet hat, wie seine Eifersucht und ihre Kinderlosigkeit die Beziehung immer stärker belastet und schließlich in verbaler und körperlicher Gewalt endet, die beide, Mann und Frau, ertragen müssen. Noémi Kiss entwirft ein faszinierendes Bild vom ungarischen Alltag kurz vor Ende des Sozialismus bis in die erste Zeit nach der Wende. In ihrer gewohnt lyrischen, doch zugleich gnadenlos direkten Sprache lässt sie die Protagonistin Rückschau auf ihr Leben halten und in beeindruckender Offenheit ihre Tat schildern sowie die Umstände, die sie dazu gebracht haben. Dabei werden zahlreiche gesellschaftliche Fragen angesprochen, von Liebe über Leiden, Kinderlosigkeit, Ausbildung, Erziehung bis hin zu sexueller Freiheit und häuslicher Gewalt. Ein großartiger Roman einer aufstrebenden ungarischen Autorin.