Edition Handverlesen

ausgewählt und gelesen von Andreas Fröhlich

von

Tunnel oder der Tag, als Mutter von mir ging

Der Einstieg in den Roman beginnt am Ende der Handlung, wo dem Erzähler nur noch ein Ausweg bleibt. Er befindet sich in einem Eisenbahntunnel, im Begriff sich umzubringen und der Welt seine Aufzeichnungen zu hinterlassen, die Aufklärung verschaffen sollen. Aber Aufklärung worüber?

Wir landen in den Kindheitserinnerungen des Erzählers, die auf eine Erklärung hinauslaufen, warum er zum Misanthropen, zum Mörder, zur Bestie, ja sogar zum Völkermörder wird.

Seine Kindheit ist von totaler Leistungskontrolle und Abschottung zu seiner Umwelt gekennzeichnet. Die Eltern verbieten ihm mit den Kindern der Nachbarschaft zu spielen, um schlechten Einflüsse von Außen direkt vorzubeugen, ein Fernseher wird nicht angeschafft, um dem Kind keine Ablenkung zu verschaffen – es soll seine Hausaufgaben machen, einmal der Beste sein und eine Karriere machen, die über die des Vaters, der Lehrer an der Grundschule ist, hinausgeht. Und tatsächlich schlummert einige Begabung im Jungen:

„Ich konnte sehr früh lesen, lange bevor ich in die erste Grundschulklasse gekommen bin. Ich habe es mir sozusagen alleine beigebracht. Um zu üben, lese ich mit lauter Stimme die Todesanzeigen in der Lokalzeitung. Meine Eltern sind stolz auf meinen Eifer.“

Da der Junge keine Freunde hat, anscheinend keine Freundschaften schließen kann und auch die Eltern keine großartigen sozialen Kontakte pflegen, versenkt er sich in eine Phantasiewelt, die sich ausschließlich um Lokomotiven dreht, die er von dem Fenster seines Zimmers aus beobachten kann.

„Fast jeden Abend male ich, nachdem ich meine Hausaufgaben gemacht habe, mit dem Bleistift stundenlang Lokomotiven, Waggons, Tunnel, Viadukte auf weißes Papier. Ich sehe mich selbst als Lokomotivführer mit schweißverschmiertem Gesicht. Meine Zeichnungen kommen mir sehr gelungen vor: meine Inspiration belässt es bei diesen wenigen Motiven, aber hierin habe ich es zu wahrer Meisterschaft gebracht. Ich bemühe mich nicht um Realismus: auch wenn meine Züge in mancherlei Hinsicht an diejenigen erinnern, die ich vom Fenster aus beobachte, so sind es doch in erster Linie meine eigenen Schöpfungen, Traummaschinen.“

Der Tunnel ist ein halsbrecherischer Balanceakt zwischen Realität und Phantasie und vermag den Hörer sofort in seinen Bann zu ziehen – ein schlagender Beweis für die Sprengkraft der Literatur!