Edition Solitude

Gedichte

von

Marzanna Kielar blättert in ihren Gedichten das Buch der Natur auf. Die Jahreszeiten, die Elemente, Lebewesen werden darin in sehr eigener Weise zum Thema, als sei alles schon lang vorbei, als sei alles weit weg. Der Mensch ist „still, seltsam unschuldig“ bei der Beobachtung der Naturvorgänge, in deren größere Ordnung er sich selbst stellt und an der er den Stand der Dinge abliest: Worte zu einem Ring gepresst, rauh, // wie die Maserung am Stamm des im Winter verdorrten Apfelbaums, dem wir einst / von den Lippen lasen“. Mit strengen und doch sehr verletzlichen Bildern findet Marzanna Kielar Worte für frostige Momente im Januar und den Februarvollmond, für den grauen Märzhimmel oder für sonnige, trockene Augusttage. Eine große Sehnsucht ist spürbar.

Augenblicke des Alltagslebens werden vergegenwärtigt wie eine ferne Erinnerung. Die Autorin spürt in freier Auflösung von Chronologie etwa „den Spänen des Schlafes“ nach und liest deren Spuren. Das letzte Dunkel, eine vergangene Bewegung, das Erste Horchen in die zu Ende gehende Nacht hinein: „bevor / die Bahnhofshallen, die Bahnsteige // uns in Besitz nehmen, mit der Netallschicht überziehen, // Mit Kälte.“

Nach einem Wort von Marcel Reich-Ranicki „ist die Lyrik das Schönste, was die Polen zur europäischen Kunst beigetragen haben“. Die Gedichte der jungen polnischen Autorin bezeichnen eine Stufe in der Entwicklung der Lyrik, die sich Ingeborg Bachmanns „Erklär mir, Liebe“ ebenso zu eigen macht wie Christine Lavants „Hilf mir Sonne“. Doch Nähe und Wärme scheinen Relikte einer vergangenen Zeit zu sein, die Form von Marzanna Kielars Gedichten zeigt sich als endgültige: „nicht mehr trennt uns von der anderen Seite“.

„Das dick verschneite Treppengeländer – auf ihm
die Spur deiner Hand; immer älter die Sonne, ihre
Märzenzunge, unnachgiebig,
zwischen deinen Fingern
Das erste Horchen in die zu Ende gehende Nacht“