Emk-Studien

Missionarische Aufbrüche in gesellschaftspolitischen Umbrüchen

von

aus dem Prolog von Karl Steckel:

Die Beschäftigung mit der Geschichte der eigenen Kirche ist für die kirchliche Identität ihrer Glieder wegweisend. Das gilt auch dann, wenn eine Kirche wie die Evangelische Gemeinschaft ‚in ihrer Eigenständigkeit aufgehört hat zu existieren‘, aber als wichtiger Traditionsstrom in der seit 1968 vereinigten Kirche, der Evangelisch-methodistischen Kirche, weiter wirksam ist. In dieser Hinsicht entspricht das vorliegende Buch von Ulrike Schuler einem entscheidenden kirchlichen Anliegen. Ihm wird die Autorin voll gerecht. Die von beispielhaftem Forscherfleiß zeugende Arbeit reiht sich im übrigen würdig in die Reihe der wissenschaftlichen Untersuchungen ein, die in den letzten Jahrzehnten das Aufleben der Geschichtsforschung im Raum der Evangelisch-methodistischen Kirche in Deutschland signalisiert. Das Buch ist die für den Druck überarbeitete Fassung der Doktorarbeit der Verfasserin, die sie im Juli 1997 dem Fachbereich Geschichte-Philosophie-Theologie der Bergischen Universität Wuppertal vorgelegt hat. Damit entspricht die Publikation weder einer journalistischen Geschichtsreportage noch einer flächenhaft erzählenden Darstellung historischer Vorgänge. Ihr Ziel ist neben der Berücksichtigung religiöser Aspekte vor allem: Weg, Wesen und Wirksamkeit einer Kirche in ihrem ‚jeweiligen gesellschaftspolitischen Kontext‘ zu sehen und zu bestimmen.

Von dieser Zielsetzung aus ergibt sich gleichsam wie von selbst die im Titel des Buchs formulierte Aufeinanderbezogenheit von gesellschaftspolitischen Umbrüchen und missionarischen Aufbrüchen. Umbrüche werden als Ergebnisse destabilisierter sozialer Lebensbereiche und damit als Ermöglichungsgrund geistig-geistlicher Erneuerung beziehungsweise kirchlich-missionarischer Aufbrüche verstanden. Meines Erachtens ist es das erste Mal, daß die Geschichte der Evangelischen Gemeinschaft in dieser Perspektive geschrieben worden ist. Perspektiven wollen ja in den wechselnden Zeitumständen relevante Aspekte einer Sache entdecken und zur Sprache bringen. In der Tat ist mit dem Begriffspaar ‚Umbruch – Aufbruch‘ ein bedeutsamer, einleuchtender, wenn auch zunächst überraschender Gesichtspunkt unserer eigenkirchlichen Geschichte aufgegriffen und zur Darstellung gebracht worden. Symptomatisch für das genannte Beziehungsgeflecht werden drei Phasen der Geschichte der Evangelischen Gemeinschaft eingehend behandelt: ihr Ursprung in Nordamerika (1800), der Beginn der Deutschlandmission (1850) und die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg (1945-1961). Das besondere Interesse der Leser werden vermutlich die mitunter erregenden Ausführungen zur Kirche im Nachkriegsdeutschland finden: die Entnazifizierungsproblematik, die zum Teil verwickelten Details beim sogenannten Missionarischen Aufbauprogramm und die kompetente Darstellung der Situation unserer Kirche in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Dass in einem zusammenfassenden Rück- und Ausblick auch das für alle methodistischen Kirchen kennzeichnende konnexionale System (Verbund der Kirchen untereinander) als ‚perspektivenerweiterndes Korrektiv‘ für die Geschichte der Evangelischen Gemeinschaft zum Tragen kommt, rundet die Gesamtdarstellung ab. Die Autorin kann erhebliche Sachkunde für sich in Anspruch nehmen. Mit beachtlichem Spürsinn und zeitaufwendiger Energie hat sie Archive durchforscht, Quellenmaterial aller Art sichergestellt, gesichtet, analysiert und ihr ausgewogenes historisches Urteilsvermögen interpretierend ins Spiel gebracht. Der Zwang historischer Notwendigkeit im Sinn eines Ablaufs ineinandergreifender gesellschaftspolitischer Phänomene findet sich dokumentarisch reich belegt. Insofern folgt man gern dem klugen, lebendig geschriebenen und informationsreichen Buch; zumal man je länger je mehr beim Lesen den Eindruck gewinnt, daß die Autorin – bei aller Liebe zur eigenen Kirche – nicht der Gefahr erliegt, deren Vergangenheit im verklärenden Licht späterer Generationen zu sehen und darzubieten. Schmerzliches wird in Kauf genommen, menschliches und kirchliches Versagen nicht schamhaft verschwiegen, aber auch nicht besserwisserisch abgeurteilt. Der heute oft gepflegte Kult das Augenblicks, der das Gestern möglichst schnell vergessen machen möchte, ist nach allem nicht die Sache der Verfasserin. Als Historikerin will sie im Gegenteil Mut machen, sich der kirchlichen Vergangenheit aufgeschlossen und kritisch zu stellen. Bei solchem Nachdenken können sich Chancen für unser kirchliches Denken und Handeln in Gegenwart und Zukunft ergeben. Diese zu entdecken und zu nutzen, wäre ein kreativer Dank an die Autorin für das uns geschenkte Buch.