Essays zur Literatur

"Erhabener Vizekonsul" - Diplomaten im Spiegel der Literatur

von

Sergej Viktorowitsch Lawrow, der aus dem russischen auswärtigen Dienst zum Außenminister aufstieg und sich noch immer als Diplomat fühlt – »die Politik überlasse ich dem Präsidenten« –, schreibt Gedichte. Sein zeitweiliger Gegenspieler, der letzte Secretary of State des amerikanischen Präsidenten Barack H. Obama, John F. Kerry, ließ sich in seinem Amt von den Theaterstücken William Shakespeares, insbesondere von dessen Komödien inspirieren. Während der langjährigen Verhandlungen über das Atomabkommen zitierte der iranische Außenminister und Chefunterhändler Mohammed Dschawad Sarif in seinen Ansprachen gern den persischen Nationalepiker Abū ʾl-Qāsim Firdausī. Dominique de Villepin, der die Leitung des Quai d’Orsay bereits während der Attachéausbildung im Auge hatte und inzwischen Vorsitzender des Conseil d’État ist, verfasst Romane und Essays. Es gibt einen neuen Trend interdisziplinärer kulturwissenschaftlicher Forschung, der sich mit dem Einfluss der Literatur, vor allem des Theaters und der Poesie auf die Gestaltung der internationalen Beziehungen in der frühen Neuzeit, umgekehrt aber auch mit der Diplomatie als zeitgenössischem literarischen Thema auseinandersetzt.
Als »staatlich anerkannte und besoldete Gauner und Taugenichtse« kanzelte Egon Friedell die Diplomaten in seiner »Kulturgeschichte der Neuzeit« ab. Im Mittelalter und in der Renaissance genossen sie höchstes Ansehen bei Dramatikern und Dichtern. Inzwischen werden die vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen Literatur und Diplomatie unter den verschiedensten Aspekten fachlich übergreifend erforscht. In diesem Essay geht es nicht um politische oder literaturwissenschaftliche Analysen, sondern um das Bild der Diplomaten, das in Dramen, Tragödien wie Komödien, in Gedichten und Romanen, also in der sogenannten »schöngeistigen« Literatur vermittelt wird. Es sagt einiges aus über Botschafter, Gesandte und Konsuln in den verschiedenen Epochen, aber auch über die Autoren, die sie mehr oder weniger kritisch dargestellt oder auch bewusst ignoriert haben. Momentaufnahmen aus der umfangreichen Literatur bieten ein breites Spektrum von der Antike bis in die Moderne, von China und Indien über Europa bis in die »Dritte Welt«, vom päpstlichen Legaten bis zum Vertreter internationaler Organisationen. So ergibt sich im Laufe der Zeit ein recht buntes und zuweilen in grellen Farben gemaltes Panorama verschiedenster Typen und literarischer Botschaften.