Essener Kulturwissenschaftliche Vorträge

Russland auf der Suche nach einer zivilisatorischen Identität

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Das ideologische Vakuum, das nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums entstand, wird im heutigen Rußland von der Kulturologie (kul’turologija) gefüllt. Sie reflektiert die Suche nach neuen Wertvorstellungen und einer neuen Identität des postsowjetischen Rußland und vertritt den Anspruch einer ganzheitlichen Methode, die an die Stelle des vormals vom Marxismus-Leninismus angebotenen Erklärungsschemas tritt: Die ökonomische „Gesetzmäßigkeit“ wird von der kulturellen „Gesetzmäßigkeit“ abgelöst, der materialistische „Unterbau“ durch den geistigen „Unterbau“ ersetzt – wobei jedoch die Prämisse, „alles“ zu erklären, dieselbe bleibt.
Die kulturalistische Umorientierung geht davon aus, daß Rußland ein eigenständiger „Organismus“ mit einer eigenen Entwicklungsgesetzmäßigkeit ist, ein besonderer Zivilisationstyp mit einer eigenen kulturhistorischen und sittlich-moralischen Tradition. Die „russische Idee“ als eine die Nation integrierende Ideologie liegt heute den Diskursen sämtlicher politischer Parteien und Gruppierungen zugrunde.
Seit 1992/93 ist „Kulturologie“ an allen höheren Lehranstalten, Universitäten und technischen Hochschulen Pflichtfach, das häufig von ehemaligen Lehrstuhlinhabern für „wissenschaftlichen Kommunismus“ unterrichtet wird. Kulturologie soll den Ausweg aus der Krise der russischen Gesellschaft zeigen, indem sie auf ihre existentiellen Bedrängnisse und materiellen Nöte antwortet. Sie stellt damit eine Art Lebensphilosophie dar, die bei der Identitätssuche des postkommunistischen Menschen helfen soll.
Die Autorin: Jutta Scherrer, Professorin für Russische Geschichte an der Ecole des hautes études en sciences sociales, Paris und Forscherin am Centre Marc Bloch, Berlin. Studium der Osteuropäischen Geschichte, Slavistik und Soziologie in Berlin, Cambridge, Mass. und Paris. 1971 Promotion an der FU Berlin. Gastprofessuren: Ruhr-Universität Bochum (1978/79), Columbia University, New School für Social Research, New York (regelmäßig zwischen 1980 und 1991). Mitbegründerin des Instituts für europäische Kulturen an der Russischen Staatlichen Humanwissenschaftlichen Universität, Moskau (1995), seit 1995 Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Europäischen Universität Petersburg. Veröffentlichungen u. a.: „Requiem für den Roten Oktober. Die russische Intelligenzija im Umbruch“ (1996). „Wie sich Rußland eine brauchbare Vergangenheit konstruiert. Erinnerungskultur und Vergangenheitspolitik im postsowjetischen Rußland“ (in Vorbereitung).