Esterka Margolis

Eine Überlebende der Shoa

Vorwort von Alexander Kogan
Ich bin Alexander Kogan und der Vorsitzende der Jüdischen Kultusgemeinde Paderborn.
Im Jahr 2014 habe ich meine Cousine Ella Dor-On in Tel Aviv besucht und bin dabei auf die schriftlichen Erinnerungen meiner Tante Esterka Margolis gestoßen. Als ich diese unter Tränen gelesen hatte, beschloss ich im Einvernehmen mit meiner Cousine, sie ins Deutsche zu übertragen und sie somit der Nation zugänglich zu machen, von der die Schrecken und das Elend des zweiten Weltkriegs ausgegangen sind. Ich habe die Aufzeichnungen meiner Tante dann im Verlauf der folgenden vier Jahre nach und nach übersetzt. Während dieser Zeit habe ich auch alle Orte aufgesucht, an denen sich die geschilderten Ereignisse zugetragen haben: Grodno, Warschau und natürlich Auschwitz. Ich bin froh, achtzig Jahre nach dem Pogrom von 1938 die Aufzeichnungen meiner Tante der deutschen Öffentlichkeit in Buchform übergeben zu können. Dafür schulde ich großen Dank Irina Sudermann, die mir unermüdlich geholfen hat, die Aufzeichnungen vom Russischen ins Deutsche zu übersetzen. Ich danke ebenfalls meiner Cousine Ella Dor-On aus Tel Aviv, die mitgeholfen hat, die Aufzeichnungen ihrer Mutter Esterka Margolis für die Veröffentlichung im Internet vorzubereiten. Diese Internetfassung ist die Grundlage für das Buch, welches Herr Professor Dr. mult. Kurt Guss sorgfältig lektoriert und für den Druck vorbereitet hat. Dafür bin ich ihm und dem Verlag der Ostwestfalen-Akademie von Herzen dankbar.
Was ist das Geheimnis der Juden? Das Geheimnis der Juden beginnt mit dem Erzvater Abraham und dem Bund, den G’tt mit ihm geschlossen hat. Dieser G’tt übergab vor mehr als dreitausend Jahren am Berg Sinai die Tora, die fünf Bücher Moses mit den zehn Geboten, an das jüdische Volk und damit an die Welt. Dadurch wurde der Menschheit erstmalig in ihrer Geschichte eine moralische Richtschnur an die Hand gegeben. Die Juden haben dieses von G’tt übergebene Erbe bis zum heutigen Tag bewahrt. Sie halten unbeirrt an ihrem Glauben an den einen G’tt und an seine Gebote fest.
Juden lebten über Tausende von Jahren über die Welt verstreut, Juden lebten in der Diaspora. Über Tausende von Jahren wurden Juden verfolgt. Juden haben alle gegen sie unternommenen Kreuzzüge, Verfolgungen, Vertreibungen, Deportationen und auch alle Versuche überlebt, sie zu vernichten und auszurotten. G’tt sei Dank haben sie das alles überlebt, muss man sagen, allein schon in Anbetracht der Tatsache, dass Juden in den Jahren 1901 bis 2017 weltweit 23 Prozent der Nobelpreisträger gestellt haben, obwohl sie an der Weltbevölkerung nur einen winzigen Anteil von 0,2 Prozent ausmachen (etwa 14 Millionen). Unendlich lang ist die Liste der Menschen jüdischen Glaubens, denen Deutschlands kulturelle Blüte zu verdanken ist; ich nenne nur einige Namen aus Kunst und Wissenschaft: Alfred Adler, Kurt Tucholsky, Stefan Zweig, Carl Zuckmayer, Franz Werfel, Heinrich Heine, Robert Oppenheimer, Max Liebermann, Ernst Bloch, Arnold Schönberg, Sigmund Freud, Franz Kafka, Kurt Lewin, Felix Mendelssohn Bartholdy, Martin Buber, Albert Einstein, Elise Meitner, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Karl Marx, Adhémar Gelb, Kurt Goldstein, Artur Rubinstein, Max Wertheimer. Juden sind unbestreitbar die treibenden Kräfte und geistigen Führer in der Kulturgeschichte der Menschheit. Als das mehr oder weniger christliche Abendland versucht hat, das Judentum zu vernichten, hat es versucht, seine eigenen Wurzeln und Zivilisationsgrundlagen zu vernichten.
Ausgerechnet die Nation, zu deren Bestand und Ansehen die Juden beigetragen hatten wie keine andere Volksgruppe, unternahm den bislang letzten und grausamsten Versuch, das Judentum auszurotten. Das Land der Dichter und Denker hatte Moral und Gewissen an seinen „Führer“ abgetreten. In einem millionenfach gedruckten Machwerk verspritzte dieser „Führer“ verbales Gift gegen die Juden, über den Volksempfänger brüllte er rhetorisches Gift gegen die Juden und mit Hilfe seiner willigen Gefolgsleute sprühte er chemisches Gift gegen die Juden. Das Judentum hat das überlebt. Das „Dritte Reich“ der Nationalsozialisten hat nicht überlebt.
Während der 2.000 Jahre ihres Exils haben die Juden nie ihren Traum aufgegeben, in ihre alte Heimat zurückzukehren, sie haben nie diese Hoffnung verloren. Sie hörten nie auf zu glauben, dass ihr Exil eines Tages zu Ende ist. Ihr traditioneller Wunsch „Nächstes Jahr in Jerusalem!“ sollte kein frommer Wunsch bleiben. Nur drei Jahre nach dem Ende der Nazidiktatur haben die Vereinten Nationen für die Neugründung der jüdischen Heimat gestimmt, für den autonomen Staat Israel.
Der große russische Dichter Lew Tolstoi schreibt im Jahr 1908: „Ein Jude ist das Emblem der Ewigkeit. Er, den Tausende von Jahren weder Massaker noch Folter zerstören konnten; er, den weder Feuer noch Schwert noch Inquisition von dem Angesicht der Erde wischen konnten; er, der der erste ist, der die Weissagungen G’ttes hervorbrachte; er, der so lange Zeit der Wächter der Verkündigung war und sie an die übrige Welt weitergab – eine solche Nation kann nicht vernichtet werden. Der Jude ist so ewig wie die Ewigkeit selbst.“
Lesen Sie nun die Erinnerungen einer Jüdin, die überleben wollte, einer Jüdin, die so „ewig wie die Ewigkeit“ ist, lesen Sie die Erinnerungen einer Auschwitz-Überlebenden, die Geschichte meiner Tante Esterka Margolis.
Paderborn, 9. November 2018 Alexander Kogan

Vorwort von Esterka Margolis
Ich bin Esterka Margolis. Ich war Gefangene im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau mit der Nummer 30910.
Viele Menschen möchten das Grauen von Oświęciem vergessen, die Schande von Auschwitz verdrängen. Manche Menschen wollen der Jugend und der Welt sogar einreden, Auschwitz habe nie existiert und die Gaskammern seien eine Erfindung jüdischer Zionisten. Aber ich bin Überlebende und Zeugin der schrecklichsten Zeit auf Erden. Auschwitz und seine Flammen dürfen in der Geschichte der Menschheit niemals vergessen werden. Sollten das Feuer, die Flammen, das Grauen, die Hölle und der Name von Auschwitz vergessen werden, wird das Leben auf der Erde vergehen. Die Erinnerung an Auschwitz aber kann unsere Wachsamkeit und unseren Widerstand gegen das Böse stärken.
Am Abend meines Lebens spüre ich in mir die Verpflichtung, über meine Erlebnisse in der grauenvollsten Epoche der Menschheit zu berichten, über das Unrecht, über die Demütigungen und Erniedrigungen der Juden, die sie von deutschen Unmenschen erleiden mussten. Ich gehöre zu den letzten Überlebenden dieses furchtbaren Todeslagers und werde dieses Grauen niemals vergessen. Ich werde das mir Mögliche dazu beitragen, dass die Menschheit die schreckliche Wahrheit über die Folterkammern und das Todeslager von Auschwitz ebenfalls nicht vergisst.
Sich an die grauenvolle Vergangenheit zu erinnern bedeutet aber auch, sich an das Gute und an das Menschliche zu erinnern! Dank des Guten und dank des Menschlichen lebe ich vierzig Jahre nach Kriegsende immer noch auf dieser Erde. Ich unterscheide mich aber von anderen Menschen durch meine Vergangenheit, durch die Erfahrung meines Leids und durch die ewige Trauer, die ich in meinem Herzen trage. Nichts und niemand auf dieser Welt wird mir dies nehmen können. Der Rauch und die Flammen von Oświęciem, die Gaskammern, in denen unsere Mütter, Väter und Brüder verbrannten, werden in mir sein bis zur letzten Minute meines Lebens.
Und deshalb will ich als Überlebende des Todeslagers von Oświęciem berichten, was ich erlebt habe. Ich möchte, dass meine Enkelkinder, dass meine Urenkel und dass alle Menschen wissen: ich hatte als junges Mädchen das Leid meines Volkes zu tragen, das Leid eines Volkes von Helden. Diesem Volk war es bestimmt, die schwersten aller Prüfungen zu bestehen.
Tel Aviv Esterka Margolis