Fee Morgane – Der Heilige Gral

Die grossen Göttinnenmythen des keltischen Raumes

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Keltische Tattoos, keltische Mandalas, Jahreskreisfeste und Baum-Magie, Romane über die Keltenkönigin Boudicia, Bücher über Parcival und die Arthursaga … Das aktuelle Interesse an allem Keltischen und seinen Mythen ist gross. Aber wovon erzählen sie wirklich?
Im zweiten Band ihrer literarischen Nacherzählungen der grossen Göttinnenmythen erschliesst Heide Göttner-Abendroth Zugänge zur frühen keltischen Literatur und mittelalterlichen Romanstoffen. Mehr noch: Sie öffnet Tore zu deren Vorgeschichte. Denn all die spannenden Stoffe wurden von den Dichtern aus alten keltischen Volkstraditionen übernommen, in denen sich grosse historische Umbrüche niederschlugen: Die Kelten waren die ersten indoeuropäischen Stämme, die in Europa einzogen – gegen den Widerstand einer dort bestehenden Kultur, die sie eroberten und zerstörten. Die magischen Eigenschaften der ‚Feen‘ reflektieren ihre Stärke in dieser alten Welt. Der über Generationen dauernde Kampf und Widerstand der Feen und ihrer Heiligen Könige auf der einen Seite mit den keltischen Kriegerkönigen auf der anderen zeugt von langwieriger Unterwerfung.
In den Romanen um die sagenhafte Gestalt des Königs Arthur spürt Heide Göttner-Abendroth der Welt der Feen nach und erhellt in ihren anschaulichen Nacherzählungen jene vorchristliche, vorpatriarchale Welt, die der Herrschaft der Kriegerkönige vorausging. Auch die berühmten Gralsmythen verweisen auf diese spirituelle und kultische Welt der Göttin: Das Grals-Szenario – das es in allen Teilen Europas, nicht nur im vorkeltischen Nordwesten gab – entspricht dem matriarchalen Kultdrama von Initiation, Heiliger Hochzeit, Tod und Wiederkehr. Parcival, der angebliche Gottessucher, entpuppt sich in dieser neuen Lesart vor unseren Augen als ein Sucher nach der Göttin.
Heide Göttner-Abendroth, geb. 1941, ist Philosophin und Kultur- und Gesellschaftsforscherin. Sie hat zwei Töchter und einen Sohn. 1973 promovierte sie an der Universität München in Philosophie und Wissenschaftstheorie und lehrte anschließend zehn Jahre in München Philosophie. 1976 schloss sie sich der Neuen Frauenbewegung an, wurde zu einer Pionierin der Frauenforschung und zählt durch mehr als dreißigjährige Forschungsarbeit zu den Begründerinnen der modernen Matriarchatsforschung. 1986 rief sie die autonome ‚Internationale Akademie HAGIA‘ bei Passau ins Leben, deren Leitung sie seither innehat.
Leseprobe:

Morgane ging ans Werk, aber Merlin folgte ihr, wo immer er konnte, und beobachtete alles, was sie tat. Da beschloss sie, sein Wirken zu beenden…
Sie sattelte ihr Pferd, einen Rappen, schwarz wie die Nacht, ein Meerespferd, denn es lief so schnell übers Wasser dahin wie übers Land. Aus seinen roten Nüstern sprühten Funken, es flog mehr, als es lief, und so ritt Morgane aus Südengland davon, überquerte die Meeresenge und gelangte in die Bretagne. Bald erreichte sie den tiefen, dunklen Wald in des Landes Mitte, in dem die Töne vieler Gewässer zu hören waren, sprudelnde Quellen, plätschernde Bäche und das Rauschen kleiner Flüsse. Sie kam zum silbrigen Spiegel des Sees im Wald von Brocéliande. Dort blieb sie stehen und murmelte: ‚Nimuë, Dame vom See, meine Wahlschwester in der Anderswelt! Du hütest die Schätze am Grunde der Gewässer. Einen davon, das Schwert Excalibur, musstest du ihnen, die List und Betrug gebrauchten, herausgeben. Nun komm und fordere vom König Arthur die Gegengabe – schon viel zu lange fügt Merlin unserem Volk Schaden zu!‘
Da öffnete sich die Wasseroberfläche, und die Dame vom See erschien aus der Tiefe in ihrem Nachen. Das Boot fuhr ans Ufer, und Nimuë stieg aus. Sie umarmten sich und sahen sich schwesterlich aus dunklen Augen an, unter reichem, schwarzem Lockenfall. Dann geleitete Morgane Nimuë übers Meer nach Camelot, und als die beiden Feen dort ankamen, die Grün- gewandete auf schneeweißem Schimmel, die Rotgewandete auf kohlschwarzem Rappen, da blieb manchem Herrn und mancher Dame der Mund vor Staunen offen stehen. Es wurde ihnen schwer zu entscheiden, wer die Schönere war. Ist der Rubin schöner als der Smaragd, der Smaragd schöner als der Rubin?
Als Merlin Nimuë erblickte, verwirrten sich ihm die Sinne. Traurig trat er zu Arthur und sprach: ‚Mein König! Nun muss ich von dir Abschied nehmen, denn dort kommt die Dame vom See, der du Excalibur verdankst und der du mein Herz als Gegengabe versprochen hast. Sie hat mein Herz schon längst erhalten, denn sie warf einen Zauber über mich, dass ich mich in sie verliebte. Jetzt holt sie mich, und du wirst mich nimmer wiedersehen!‘
König Arthur erschrak: ‚Lieber als alle Ländereien bist du mir, Merlin, getreuer Ratgeber dreier Keltenkönige! Was verdanke ich dir nicht alles! Wenn du in deiner Weisheit dein eigenes Schicksal jetzt voraussiehst, warum wendest du es nicht ab?‘
‚Das ist niemals möglich!‘, sagte Merlin kurz und nahm Abschied. Er folgte Nimuë, wohin sie auch ritt. Sie führte ihn hinaus in die lieblichen Gegenden Südenglands. Einmal versuchte er, einen Gegenzauber auf sie zu legen, um sich zu befreien. Aber im Zustand der Verliebtheit gelang ihm nichts mehr. Nimuë blieb davon unberührt, ihre Magie war stärker.
Sie führte ihn übers Meer in die Bretagne, in den tiefen Wald von Brocéliande zum schimmernden See, ließ ihn in ihren Nachen steigen und fuhr mit ihm über den Spiegel dahin.
‚Bevor ich dich für immer banne, will ich dir noch etwas zeigen!‘, sprach sie und tauchte die Hand ins Wasser. Da wurde der See klar und durchsichtig bis zum Grund. Merlin erblickte in seiner Tiefe ein wunderbares Schloss aus zarten Bögen, mit runden Räumen und spiraligen Treppen, genauso durchscheinend wie das Wasser. Seejungfrauen schwebten darin hin und her, brachten Speisen auf Muschelschalen und Getränke in Schnecken- hörnern und spielten auf feinen Harfen. Das Schloss bog sich rings um einen weiten Innenhof, dort tummelte sich der silberne Ritter mit einem überaus schönen Jüngling auf Feenpferden. Zwei ältere Jünglinge nahmen auch an dem Reiterspiel teil.
‚Dort in der Tiefe des Gewässers siehst du König Pellias, meinen Gatten‘, sprach Nimuë, ‚und der Jüngling ist Lanzelot vom See, mein Pflegesohn. Die anderen sind seine Vettern Lionel, der Kühne, und Bohort, der Gute. Auch sie rettete ich in mein Reich – so ging die Gralssippe der Bretagne nicht zugrunde. Sie sind jünger geblieben als ihre Altersgenossen in der Oberwelt, denn in meinem Reich vergeht die Zeit nur langsam.‘
‚Ich weiß es‘, murmelte Merlin, ‚denn meine prophetische Gabe sagte mir, dass der Sohn der Gralskönigin Elaine nicht tot ist, sondern bei dir weilt. Er wird der größte Held Britanniens werden, noch größer als König Lot, dem er durchaus gleicht. Und er wird das Reich des Königs Arthur zerstören –‘ Merlin seufzte, nichts konnte er in seinem Zustand tun, um das, was er wusste, zu verhindern. Denn er hatte sein machtgieriges Herz nicht mehr bei sich, die Liebe hatte es ihm genommen. Der See wurde wieder undurchsichtig, der Nachen stieß ans andere Ufer. Dort erhob sich ein großer Felsblock mit einer Spalte, die sich nach unten wie ein Tor öffnete, und ringsum lag im Farn ein überwachsener Steinkreis.
‚Um deiner Liebe zu mir willen‘, sprach Nimuë, ‚tritt unter diesen Stein!‘
Merlin folgte dem Gebot und trat in das Tor, das der Stein öffnete. Sogleich stand er dort wie angenagelt und konnte sich nicht mehr rühren und regen. Lebendig war er erstarrt, alle seine Künste halfen ihm nichts mehr, Nimuë hatte ihn gebannt. Der offene, bemooste Steinkreis bildete eine festere Mauer um ihn als die Wände eines Gefängnisses.
‚Hier wirst du bleiben, Merlin!‘, sagte sie, ’niemals wirst du unter diesem Stein hervorkommen, um dem Feenvolk weiterhin zu schaden. Als du noch ein Kind warst, sandte dich deine Mutter als Schüler zu mir, und ich lehrte dich alle Magie. Nur den Liebeszauber behielt ich für mich. Du gerietest in die Hände der Kelten und hast dein Volk zum eigenen Nutzen verraten. Die Magie hast du verkehrt und gegen uns gerichtet, unendliches Leid fügtest du uns zu. Nun hat dich meine stärkere Kraft überwunden. Und weil List und Lüge dich auf deinen Wegen begleitet haben, bist du dazu verurteilt, von nun an immer die Wahrheit zu sagen!‘
Sie ging davon, jung und schön, denn sie war eine Fee, für die es die Zeit kaum gab. Für Merlin aber verstrich viel Zeit, und Farn und Efeu wuchsen an seinem Stein empor. Zuletzt überwucherte ein Weißdornbusch ihn gänzlich, und der Zauberer wurde darunter unsichtbar. In manchen Nächten konnte man seine Stimme aus dem steinernen Gefängnis klagen hören, aber niemand konnte ihn daraus befreien.