Fluchtkulturen

Essays und Plädoyers 2

von

Kulturen sind Deutungs-, Interpretations-, Verstehens- und Verständigungshorizonte. Sie umhüllen uns, verbinden uns, trennen uns und schlagen in uns Wurzeln. So sind nicht nur Sprache, Glaube, Alltagsbrauchtum, Tradition, Bildung, Wissenschaft, professionelles und alltägliches Gewusst-Wie, Philosophie, Medizin, Erinnern, Vergessen und vieles mehr kulturell geprägt, sondern auch Gefühle, Gewissen, Impulse, Verhaltenswahrscheinlichkeiten und Verantwortungsbereitschaft. Kulturen sind komplexe, dynamische Gestalten, die wir gerne mit den Worten Charakter und Mentalität umschreiben. Kulturen sind individuelle und kollektive Verfassungen von Geist und Gemüt.

Als Sozialwissenschaftler, Pädagoge und Schriftsteller arbeite ich seit Jahrzehnten für eine offene, tolerante, multikulturelle Gesellschaft. Multikulturell verstanden als Vielfalt im Sinne der oben exemplarisch genannten Felder. Diese Vielfalt muss heute verbunden, geschützt und gestärkt werden durch Aufklärung, Demokratie, Rechtsstaat, Toleranz und wechselseitige Achtung.
Es ist aber ein lebensgefährlicher Irrtum, sich multikulturelle Gesellschaften uferlos und unbeschützt vorzustellen. Neben Offenheit, Mobilität, Vielfalt und Toleranz, braucht jede Gesellschaft auch Stabilität, Verlässlichkeit, Kontinuität, Grenzen und Achtung vor dem weltlichen Recht. Achtung vor Frauen; Lust auf Aufklärung und Wissenschaft. Dies Gewebe müssen wir täglich neu schaffen und festigen. Wehe, auch nur eine Glaubensgemeinschaft stellt ihre »Gewissheiten«, ihre »Allwissenheit«, ihr »Gottesgnadentum«, ihr »Heiliges Buch«, ihren »Alleinerlösungsanspruch« über die Ideen der anderen und die weltliche Verfassung. Wehe, es entstehen auch nur größere Minderheiten, die Demokratie und Rechtsstaat verachten und Solidarsysteme missbrauchen. Zur Zerstörung von Demokratie, Solidargemeinschaft und Rechtsstaat bedarf es keiner statistischen Mehrheiten.