Forum Hamburger Autorinnen und Autoren. 23. Jahrbuch

Aufgeräumt

von , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

Unter dem Radar
Fünfundzwanzig Jahre Mauerfall, fünfundzwanzig Jahre
Arved Fuchs und Reinhold Messner zu Fuß am Südpol,
fünfundzwanzig Jahre erstmaliger Europameistertitel
der Frauenfußballnationalmannschaft, fünfundzwanzig
Jahre Fantastische Vier, fünfundzwanzig Jahre Khomeinis
Fatwa gegen Salman Rushdie, fünfundzwanzig Jahre
Inthronisation von Akihito zum Tenno, fünfundzwanzigster
Todestag von Salvador Dalí, fünfundzwanzig
Jahre Transformation des Dichters Václav Havel zum
Präsidenten, fünfundzwanzig Jahre seit 1989, fünfundzwanzig
Jahre Forum Hamburger Aut…

Nein, halt, stopp! Reinbekerhamburgerforumjungerdannnichtmehrganzsojungerschonganzschönalterendlichnichtmehrjungerautorenoderautorinnenundautor
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– wer bitte, was?! Nein, wahrlich,
das Forum segelt unter dem Radar. Keine Gruppe 47,
keine Leipziger Schule, kein Dadabrückeblauerreiter
und auch kein Dogma. Nicht einmal eine Macht. Allenfalls
mal eine Zeitungsnotiz im Lokalteil, Lesungen
bevorzugt im Versteck eines Eppendorfer Kulturhauses.
Und doch: Stolze fünfundzwanzig Jahre Textarbeit mit
wechselnder Belegschaft, anfängliche Diadochenkämpfe
testosterongesteuerter Junglyriker mit letal gespitzten
Federkielen inklusive. Dein Versmaß ist der Untergang
des Abendlandes! Bis der Aufruhr sich in den Zeilen-
brüchen verlor und die Duellanten der Heißblutphase
sich im Ungefähr verstreuten, der Metapherndampfer
in ruhigeres Fahrwasser glitt, den Erzählfluss hinab, der
Bewusstseinsstrom mündet ein, der perlende Quell verdichtet
sich, quirlt und strudelt, Ozeane voller Worte –
Romane werden zu den Leuchtschiffen der nächsten
Generation. Die Protagonisten wechseln, mal kleckernd,
mal in Schüben. Konstanz in der Veränderung.

Stets aber die Verbindlichkeit einer festen Gruppe –
in der Geborgenheit des umgrenzten Raums kann das
Florett der Kritik vertrauensvoll umso schärfer stechen.
Manch einen trifft liebevolle Schonungslosigkeit wie mit
dem Skalpell. Lustvoller Masochismus, mentale Bruchlandung,
wenn der eigene Text im Kreuzfeuer der Kritik
zerpflückt, zerlegt, zerfleddert, auseinandergenommen,
neu zusammengesetzt und in alle auch und insbesondere
nichterdenklichen Richtungen fortgeschrieben wird.
In der Dissonanz der Stimmen behauptet sich der eigene
Stil. Einige nutzen das Forum als Durchlauferhitzer,
als Schnellen Brüter, um auf Betriebstemperatur für den
Literaturbetrieb zu kommen. Andere suchen eben hier
ihren Schutzraum vor den Hyänenkämpfen der freien
Wildbahn. Oder finden hier ihr Nischenbiotop. Dabei
zugleich ein enger Bund, eine verschworene Truppe,
Rudel – Horde – Heimat, von der Schweiz bis an die Elbe,
von Lüneburg bis an die Alster. Balsam gegen Agenten,
Lektoren, Verlagsabsagen. Sylt-Langeloh-Quaal-SalzauBleckede-
Insel-Poel-Golsmaas-Schalsee-Thorstorf, seit
15 Jahren einmal jährlich ein Intensivbonding-Wochenende
mit Textragout und Worteintopf, selbstplagiierendem
Quaalbuch, gefakten Protokollen, fortgeschriebenen
Schundfunden, gekaperten Feuerwehrfesten, zerredeten
Strandwanderungen, kreischendkaltem Nacktbaden,
nächtlichen Fahrradodysseen, viel Wein und kategorischen
Statements.

Bis sich Prioritäten verschieben, Erfolge einstellen,
Enttäuschungen obsiegen, Reibungsfläche nicht mehr
gebraucht oder nicht mehr ertragen wird. Die Meute lebt,
die Karawane zieht weiter. Und natürlich driften einige
ab, Scheitern inklusive, Rückzug ins Private, Generation
Praktikum, Schauspielhoffnungen, prekäre Erwerbsverhältnisse,
Programmzeitschriftenredaktion, die Erfolgreichsten
fahren Taxi. Dr. phil., Dr. iur., Dr. phil. – Die
Natur der Literatur. Zur gattungstheoretischen Begründung
literarischer Ästhetizität – Der rezipientenbezogene
Schutz massenmedialer Kommunikation –
The Reality of Tense, ein Handkuss, Hofknicks für die
Queen, Adelsreportagen von philosophischer Warte
aus, Associate-Professuren für Afrikanistik und Suaheliforschung
in New York oder für Informations- und
Kommunikationswissenschaft in Paris – und ja, selbst ein
stellvertretender Ministerpräsident.

Vor allem aber Literatur! Erste gedruckte Worte, das
Forumsjahrbuch als Selbstvergewisserung – scripto ergo
sum –, beständiges Lebenszeichen an der Schwelle zur
Wahrnehmbarkeit in der unermesslichen Bleiwüste aus
Gedrucktem. Obskure Gazetten, Hamburger Ziegel
im Gardemaß 22 x 10,5 x 6,5 als Benchmark, Selbstverlegtes
und – notfalls – auch E-Book. Aber auch Dumontrowohltsuhrkamphanserchbeckberlineichbornschöfflingfischergoldmannetcpp.
Über Strecken ein gefühltes und
von dritter Seite missgünstig unterstelltes Abonnement
auf den Hamburger Förderpreis. Überhaupt: Orden, Tressen,
Ehrenwürden zuhauf. Gewiss, bislang kein Bach-
mann-Büchner-Deutscher-Buchpreis, im Programm aber
immerhin – und das nur auswahlweise – Mara Cassens,
William Gass, Robert Gernhardt, Irmgard Heilmann,
Marie Luise Kaschnitz, Rainer Malkowski, Ernst Meister,
Otfried Preußler, Martha Saalfeld, Ernst Willner,
Bayrischer Rundfunk, Jürgen Ponto-Förderpreis, Oldenburger
Kinder- und Jugendbuchpreis, Deutscher Jugendliteraturpreis,
Shortlist zum Deutschen Buchpreis. Bis
hin zum Spiegel-Covergirl als blechtrommelnde Oskaren.
Weit mehr als ein Regalmeter gedruckte Literatur
aus Forumsschreiberhänden, Übersetzungen aus aller
Herren Länder noch gar nicht mitgezählt. Doch nirgendwo
prangt ein offizieller Forumsstempel auf dem Cover –
und auch im Klappentext sucht man meist vergeblich.

Tja, das Forum. Ein Schattenwesen, ein Grottenolm.
Nach einer prunken Geburtsstunde im Festsaal des
bedeutendsten Renaissanceschlosses Norddeutschlands
zu Reinbek drei Gäste bei der ersten Lesung mit festem
Honorar in einer Buchhandlung im weiten Land, zwei
Zufallsgäste, der Vermieter, ein Hund und eine Spinne
in einer Esoterikpension auf Sylt, dort auch ein fürstliches
Gehalt für mehr Autoren als Zuhörer zwischen
Sprudelwasserflaschenkisten des örtlichen Quellwasserabfüllers.
Trubeliger die heimischen Kneipen- und Galerielesungen
in den goldenen Zeiten des literarischen
Hamburger Nachtlebens der zweitausender Jahre, subversiv,
in kleinen Besetzungen, Ausbruch aus dem Buchhandelvolkshochschulkulturvereinsghetto.
Dabei niemals
Slam – Pop – Open Mike, aber im Kielwasser spült es als
Antithese auch das Forum ins freie Meer. Am Puls der
Zeit, aber niemals Zeitgeist hechelnd. Schließlich eine
Sternstunde, Forum rockt Klassik vor ausverkauften
Rängen und mit anschließender Megasause im Herzen
der Goetheschillerherderwielandmetropole Weimar,
magisterreife Organisationsleistung des seinerzeit nach
Thüringen entliehenen High-&-Low-Level-Litbizz-Beauftragten.
Bis der Elan irgendwann in der Schilleroper,
letzter Widerstandshort, vertröpfelt. Familie, Kinder,
Brotberuf – und irgendwo, irgendwann neben Kita,
Jobakquise, Pflichtübersetzungen ein paar einsame Stunden
für das Schreiben abknapsen. Bis die nächste Welle
heranrollt, frisches Blut, neuer Enthusiasmus. Das ist –
25 Jahre nach dem Anfang – jetzt!

Fazit: Nein, das Forum ist kein Flaggschiff, der Parade
voran. Aber es erzielt Wirkung. Seit 25 Jahren. Es lohnt,
es auf dem Schirm zu haben.

Dank gebührt Inga Sawade für die organisatorische
Leistung sowie Jonis Hartmann, Nathalie Keigel, Sascha
Preiß und Tanja Schwarz für das Lektorat, ohne die es
diesen Jubiläumsband nicht gäbe.

Sascha Sajuntz

Sascha Sajuntz – Unter dem Radar – Ein Präludium
Karen Köhler – #Parkspaziergang
Sigrid Behrens – Dorle Jünger nimmt Anlauf und steht
Tanja Schwarze – Das Jahr der Aliens Wassilissa Arkadjewna Watnikowa – Der Europäer (übersetzt von Sascha Preiß)
Sascha Sajuntz – Absturz
Martin Felder – Die Welt ist ein solider Stoff
Elisa Helm – Mit der Sehnsucht nach Wasser und dem Geruch nach Tannen
Helge Brumme – Staatsstreich
Myriam Keil – Abbilder
Andreas Münzner – Deutsche Bahn und andere Gedichte
Britta Günther – Alle verreist
Charlotte Richter-Peill – Die Köchin (Auszug)
Oskar Sodux – Invasion der Veganer und andere Geschichten
Nathalie Keigel – Zwischen
Katha Schulte – Schwamm (Romanauszug)
Silke Stamm – Achtzig Arten, eine Antwort zu erhalten (Auszug)
Matthias Göritz – Plastik
Alicja Wendt – Gedichte
Inga Sawade – So, wie es uns gut geht: Rebekka
Stefanie Richter – Bibi Pöseldorf – Technischer Zeichner
Maja Rettig – Das Meer glauben
Mirko Bonné – Alter Landweg bei Bergedorf und andere Gedichte
Johanna Kaptein – Schrecken und Reden (Auszug)
Robert Habeck – versonnen und andere Gedichte
Birgit Utz – Smalltown Blues (Auszug)
Johannes Ottmar – Fünf kurze Texte
Tanja Schwarz – Elysée
Jonis Hartmann – Adé und andere Miniaturen
Irena Stojanova – Ein Koffer voller Schminke
Gordon Roesnik – Adjutant
Nils Mohl – Lama I & II
Sascha Preiß – Tomislav erzählt, wie es im Schützengraben zugegangen ist
Sonja Schiermann – [Das träumende Auge, die Fliegenfalle]