Frau Merkel sieht auf ihrem Schuh ein Streifenhörnchen, das sich putzt

Lyrische Lesarten

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„Was sind wir Menschen doch! Ein Wohnhaus grimmer Schmerzen“ / „Es gibt nur zwei Dinge: die Leere und das gezeichnete Ich.“ – Von Andreas Gryphius bis Gottfried Benn: Was von den großen Versen im Ohr bleibt, hat einen Weg hinter sich – von innen nach außen; etwas Subjektives, Intimes gibt sich zu erkennen – als Klage, Trostbedürfnis, bitteres Eingeständnis.
Die Gedichte in diesem Buch sind in der Gegenrichtung unterwegs: Am Anfang stehen nicht innere Motive, sondern äußere Anlässe – Bilder als Fundsachen: Plakate, private Aufnahmen, Gemälde, Selfies. Meist aber sind es die der Aktualität verpflichteten Pressefotos der Agenturen. Süchtig sind wir nach ihnen, als seien sie der Wirklichkeit ganz nah und wir damit auch. Dabei sind sie oft die Nutten der Macht; sie machen uns täglich an und sind leicht zu haben. Ihnen ist nicht zu trauen. Brecht sagte es 1931 so: „Das riesige Bildmaterial, das tagtäglich von den Druckerpressen ausgespien wird und das doch den Charakter der Wahrheit zu haben scheint, dient in Wirklichkeit nur der Verdunkelung der Tatbestände.“
Wenn man diese Bilder aber lange anschaut und freundlich verhört, verraten sie mehr als ihnen und der Macht lieb sein kann. Martin Jürgens betreibt dies Geschäft seit über sechs Jahren monatlich in Konkret: in seinen lyrischen Bildlegenden. Die Themen reichen von Schweini bis zur Kanzlerin inmitten des politischen Spitzenpersonals, von seiner Heiligkeit in Rom bis Obama, der im Weißen Haus am Monitor der Tötung Bin Ladens zusieht.
Und manchmal gibt es was zu sehen, das abseits von allem so schön ist, dass es nur wahr sein kann: Wenn Ingeborg Bachmann mit ihrer Zigarette Hans Werner Henze Feuer gibt, wenn Charlie Chaplin sich zu den gestürzten Giganten des Pergamon-Altars setzt, wenn eine junge Frau uns über ihre Schulter ansieht in einem Gemälde Vermeers.