Gestern abend im Café

Prager Kaffeehäuser und Vergnügungsstätten in historischen Bilddokumenten

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Der opulent ausgestattete Band entführt den Leser in die versunkene Welt der alten Kaiserstadt an der Moldau: Er verarbeitet über tausend historische Photographien und zahlreiche unbekannte Schriftzeugnisse zu einem faszinierenden Bild der Prager Kaffeehäuser, Restaurants, Varietébühnen und Nachtlokale in den letzten Jahren der Donaumonarchie und in der Zwischenkriegszeit.
Hartmut Binder hat wieder zugeschlagen und soviel ist gewiß: was der Altmeister einmal erbeutet, das nimmt so schnell keiner mehr ins Visier. Das schon vor Jahren begehrlich umkreiste Thema der Prager Vergnügungsstätten der Kafkazeit ist ums Mehrfache angeschwollen zum wahrhaft fulminanten Handbuch einer einst blühenden Alltagskultur. Binders neuestes Werk läßt das bisher Gebotene zu Makulatur werden: Auf über 1000 Seiten dokumentiert sein Gestern abend im Café die Prager Etablissements, die vor gut hundert Jahren und mehr noch den atmosphärischen Hintergrund zu Kafkas einzigartigem Genius Loci bildeten. Dabei geht es ihm nicht nur um die rund hundert Kaffeehäuser an der Moldau, darunter solche, die Orchester zur Unterhaltung ihrer Gäste engagiert hatten, sondern auch um die Restaurants, in deren Räumlichkeiten teilweise Kleinkunstbühnen installiert waren, weiters die kleinen Theater, Tingeltangel, Kabaretts und Tanzbars, die schillernde Szene der Nachtclubs, das gerade aufkommende Kino und natürlich die damals international renommierten Prager Varietés. Aus den Erinnerungen der Zeitgenossen, aus Zeitungsannoncen sowie über 1000 historischen, vielfach farbigen und meist unbekannten Abbildungen entsteht ein Stadtportrait von geradezu exotischem Reiz. Dazu gehören auch die heute vollständig vergessenen Bühnenkünstler und Artisten, die in der Mehrheit als Künstlerinnen mit ihren Reizen und Glanzstücken das Publikum zu begeistern wußten.
Gewiss ist dem heutigen Betrachter auch die Erkundung vor Ort möglich, denn die Gebäude haben sich vielfach erhalten und der Autor hat auf die Lokalisierung der behandelten Einrichtungen besonderen Wert gelegt. Zuweilen existieren auch noch die Lokale selbst oder wurden unter ihrem alten Namen am authentischen Ort wiedereröffnet – wie etwa das Louvre, das Slavia, das Grand Café Orient. Viel Poetischer ist freilich Binders Welt in Sepia. Sein Zauberschlüssel entriegelt die Tür in eine lange verschlossene Kammer und weckt sanft die Schönen auf dem verstaubten Plüsch. Und wenn er zu erzählen beginnt, da sehen wir die Schönen sich im Takt der Musik wiegen, wie gestern abend im Café.