Gitta Seiler

Die Frau im gelben Gewand

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Es war, das wissen wir aus sehr alten Dokumenten, schon vor zweieinhalb Jahrtausenden ein Amtsgeschäft der chinesischen Herrscher, sich Melodien aus allen Teilen des Reiches vorspielen zu lassen, um zu verstehen, was sich in den Herzen der Untertanen zutrug. Diese Melodien kommen heute aus Kopfhörern, aus Lautsprechern, gelegentlich auch noch aus den Kehlen von Straßenverkäufern oder von einsamen Verliebten im öffentlichen Park der Stadt. Und üben den ihnen eigenen Zauber aus. In süßen, in schrillen und in knarzenden Tönen.
Die Fotografin Gitta Seiler ist eine Meisterin des Erfassens magischer Momente des Alltags. Es sind Momente der Hoffnung, des verspiegelten Glücks, der offenen und der verschämten Lockrufe. In China sind es meist junge Frauen, die Seilers künstlerische Neugier erregen – eine auf männliche Nachkommen fixierte Politik hat diesen Wesen einen besonderen Marktwert erspielt. An die Stelle der alten Melodien sind heute oft Schlager, seltener Arien oder Volkslieder getreten. Doch alle bewegen die Herzen, alle geben Auskunft. Und hier zeigt sich die große Künstlerin Gitta Seiler: Sie entdeckt in den Bildern und Posen der Straßenszenen das verborgene Lied. Und lässt den Bildern ihr Geheimnis.