Göttinger Sudelblätter

von

Günter Kunert gehört zu den produktivsten und intellektuell anspruchsvollsten Autoren seiner Generation. Neben seinem umfangreichen lyrischen Werk wurden auch seine Erzählungen und seine Kurzprosa viel beachtet. In seinen sensiblen Beobachtungen und Notizen fixiert er skurrile Situationen und gesellschaftliche Paradoxa. Als Skeptiker befragt er die moralischen und politischen Maßstäbe unserer Zeit. Seine scharfsinnigen Analysen sind der Aufklärung verpflichtet. Dabei kennzeichnen Melancholie oder gar Pessimismus nicht selten seine Sicht. Dem steht jedoch auch wieder eine unbändige Lust am sprachschöpferischen Spiel gegenüber.
Die „Nachrichten aus Ambivalenzia“ sind ausgewählte Stücke aus einer großen Textsammlung, die zwischen den späten siebziger Jahren und 1996 entstand. Die Numerierung der Texte entspricht dem Original und läßt die Auslassungen erkennen.
Kurztext: Kunerts Notizen und Aphorismen sind geprägt von melancholischem Scharfsinn. Sie zeugen von ungebändigter Lust am Spiel mit der Sprache. Auch seine Zeichnungen sind von ausgesprochener Originalität.

Zur Reihe: Anknüpfend an die literarische und ästhetische Tradition der Aufklärung erscheinen seit 1990 im Wallstein Verlag die „Göttinger Sudelblätter“. Herausgeber dieser Buchreihe in Heftform ist der Literaturkritiker und Schriftsteller Heinz Ludwig Arnold, der 1999 mit dem Niedersachsenpreis ausgezeichnet wurde.
Die Reihe ist zeitgenössischer Prosa und kritischer Essayistik vorbehalten und erscheint in lockerer Folge von ca. drei Heften im Jahr.

Der Autor: Der 1929 geborene Günter Kunert wurde schon früh von Bert Brecht und Johannes R. Becher gefördert. Wegen seines Protests gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann (1976) wurde er 1977 aus der SED ausgeschlossen. Seit 1979 lebt er – zunächst mit mehrjährigem Visum – in der Bundesrepublik.
Für sein Werk wurde er u. a. mit dem Heinrich-Heine-Preis (1985) und dem Friedrich-Hölderlin-Preis (1991) ausgezeichnet.

Leseprobe: Scherbengericht:

Wie es angefangen hat, weiß ich nicht mehr. Zum Ende der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, historisierend gesagt, in der Ära des sterbenden Sozialismus, machte ich mir über dies und jenes Notizen. Und merkte gleich, daß ein Gedanke nur Bestand hat, wenn man ihn schriftlich fixiert. Wir sind es gewohnt, so obenhin über vieles hinwegzudenken, Luftblasen, Seifenblasen, doch was man nicht festhält, kehrt im Gedächtnis nie oder doch nur höchst selten wieder. Also schrieb ich auf, was mir durch den Kopf ging: Eine Auseinandersetzung mit der Welt, ihren Erscheinungen und zugleich eine Begegnung mit mir selbst. Der sogenannte Mensch ist ein recht diffuses Wesen, das von sich selber glaubt, es besäße eine exakte Kontur. Wir irren uns immer, sobald wir uns der eigenen Person ernsthaft zuwenden. Dann erst merken wir, wie fragwürdig unsere sogenannte „Persönlichkeit“ ist. Durch die Notizen, Reflexionen, Betrachtungen, Anmerkungen, Erinnerungen – es sind inzwischen weit über tausend Seiten – habe ich mich entäußerlicht, um für mich selber sichtbar zu werden. Um zu wissen, wer ich denn eigentlich bin. Aber ich habe mich dabei nicht entdecken können. Die meisten Leute gewinnen ihr Selbstverständnis durch die ihnen gesetzten Grenzen, die ihnen nicht im mindesten bewußt sind. Man kann aber immer ein anderer als der sein, für den man sich im Moment hält. Alles von mir Aufgeschriebene wirkt auf mich fremd – als hätte es ein Sonstwer verfertigt. Nur: Dieser Sonstwer muß ich wohl sein, da sich niemand außer mir als Autor der Texte meldet. Ist diese Ungewißheit über das eigene Selbst nun ein Glück oder ein Unglück? Ach, Brecht, in Ihrer Liste der unbeantworteten Fragen haben die wichtigsten gefehlt.
Günter Kunert (1.Juni 00)