Hitlers Schatten

Deutsche Reportagen

von

GEGEN DAS VERGESSEN
Hitler und kein Ende. Kein historisch-politisches Thema vermag die Deutschen mehr zu bewegen und zu erregen. Hitler ist ein Popstar. Eine Ikone der Medien- und Unterhaltungsindustrie. Ein Magazin, das Hitler auf die Titelseite setzt, verkauft sich immer gut. In seinem Erregungs- und Entrüstungspotenzial lässt sich Hitler von keiner anderen historischen Schreckensgestalt übertreffen. Es scheint, als wäre Hitler den Deutschen nach mehr als sechzig Jahre nach Kriegsende näher denn je.
Es gibt eine neue Leichtigkeit im Umgang mit dem Nationalsozialismus. ‚Nicht, weil der Gegenstand seine Schrecken verloren hat‘, wie Jens Jessen schreibt, sondern ‚weil sich der Schrecken vom Gegenstand gelöst hat‘. DER UNTERGANG, ein Film über Hitlers letzte Tage, fand schon kurz nach wenigen Tagen mehr als eine Million Besucher. Guido Knopps ZDF-Dokumentationen sind Quotenbringer. Die ‚dokumentarischen‘ Filme und Fernseh-Dokumentationen leben von der Fiktionalisierung. Und die ist unaufhaltsam, schon allein deshalb, weil die letzten Augenzeugen aussterben. Das tatsächlich Geschehene weicht einem historischen Mythos, der keine Widersprüche kennt. Die Gestalten, die
Propaganda, die Verbrechen des Dritten Reichs verschwinden, das reale Grauen schlägt um in schaudernde Faszination. So wird das Dritte Reich rhetorisch vernebelt, marktgängig in die Jetzt-Zeit transferiert. Die Nazizeit verkommt zur beliebigen einsetzbaren Chiffre des Bösen – mit einem verhängnisvollen Nebeneffekt: Es ist die Verharmlosung.
Dass dies so ist, daran haben in den letzten Jahrzehnten viele mitgewirkt: Richter, Politiker, Historiker, Medienleute.
Der verharmlosenden Beliebigkeit gingen Jahre der Verleugnung und Verdrängung voraus. Joachim Perels dokumentiert (in: DIE ZEIT vom 20.Januar 2006) anhand zahlreicher Beispiele, dass die bis heute aufgestellte Behauptung, die juristische Aufarbeitung der NS-Herrschaft sei weitgehend gelungen, zu den lieb gewonnenen Legenden der Bundesrepublik gehört. Bereits 1949 beschloss der Gesetzgeber eine Amnestie für eine Vielzahl NS-Gewalttäter. So wurde u. a. Hitlers Amnestieregelung für staatliche Straftäter bei der Reichsprogromnacht von 1938 weitgehend wieder in Kraft gesetzt. Das Amnestiegesetz von 1954 folgte einer vergleichbaren Logik: es war nichts weniger als der Versuch, Straffreiheit für bestimmte maßnahmenstaatliche Akte der NS-Diktatur zum Bestandteil der Rechtsordnung zu machen. So verwandelten sich Tötungs- und Gewaltdelikte in eine von ‚oben‘ befohlene Straftat ohne eigene Verantwortung. Die Täter und deren Taten wurden weißgewaschen. Sie hatten angeblich keine eigene, sondern gewissermaßen eine ‚fremde‘ Tat begangen.
Es ist eine beschämende Tatsache: Die Ahndung der Verbrechen des Nazi-Regimes ist – trotz wichtiger Verfahren wie dem Auschwitz-Prozess – überwiegend gescheitert. Abgesehen von Einzelverfahren blieb Hitlers Kommandozentrale ebenso unbehelligt wie beispielsweise die Blutrichter des NS-Volksgerichtshofes und deren juristische Gehilfen.
Vergangenheitsbewältigung – eine Lebenslüge der Deutschen? Ein juristischer, gesellschaftlicher und politischer Etikettenschwindel? Zu mindest ein populäres und ein umstrittenes Wort. Es gilt als typisch deutsch. Vielleicht offenbart es, wie der Schriftsteller Bernhard Schlink meint, allenfalls eine ‚Sehnsucht nach Unmöglichem‘. Kann, was geschehen ist, überhaupt bewältigt werden?
Berliner Republik 2013: Die Vergegenwärtigung der Vergangenheit folgt heute anderen Prämissen. Nicht die Verleugnung und Verdrängung der Adenauer-Ära, nicht die Fragen der skeptischen Generation der siebziger Jahre nach der Schuld und Mitschuld ihrer Väter und Großväter stehen heute im Vordergrund: Heute bestimmen einerseits kontroverse Auseinandersetzungen über eine neue Gedenkkultur die öffentliche Debatte, etwa um das Berliner Holocaust-Denkmal, andererseits ist die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus mehreren Relativierungen ausgesetzt, in denen es vor allem um ‚deutsche Opfer‘ geht: die Brandbomben auf deutsche Städte, die Verbrechen des Stalinismus – grausame Wirklichkeiten in der Tat. Freilich: auf Abfolge, Kausalitäten und Dimensionen des Terrors wird oft genug großzügig verzichtet.
HITLERS SCHATTEN – so der Titel dieser Reportagen-Sammlung. Und in der Tat: wir leben noch immer im Schatten Hitlers. Aber nicht, weil eine Wiederkehr der NS-Barbarei droht, sondern weil sich im Gegenteil der Nationalsozialismus gewissermaßen ‚entwirklicht‘: Die Täter sterben aus – die Opfer und Zeitzeugen auch.
Mit Blick auf die Gegenwart, in der persönliches Erinnern immer seltener wird, braucht es deshalb Wissen wie ‚es geschehen konnte‘ und nicht nur die Bereitschaft zur Erinnerung. In diesem Buch geht es um Täter und Opfer, um Nutznießer und Weggucker, um Gleichgültigkeit und Ahnungslosigkeit, um Versagen und Feigheit, um Schuld und Sühne, um Verdrängung und Verleugnung – aber auch um Mut und Aufrichtigkeit. Es geht um Hitler und seine Zeit – und wie diese Zeit bis heute fortwirkt.
Die Reportagen in diesem Buch erzählen von Schicksalen, beschreiben Tragödien, dokumentieren Versäumnisse und Kontinuitäten. Es sind Reportagen gegen das Vergessen. Reportagen, die uns mahnen: Die Frage ‚Wie war es möglich?‘ darf nicht verjähren.

Helmut Ortner im Mai 2013