Horizont 13

Gedichte

von

«…springe ins Netz meiner Worte…»

Zur Lyrik von Leonor Gnos

War sie einst nicht «der Holzboden der Kultur», die Urschweiz fernab der Städte? Aber manchmal entfaltet sich eine Begabung gerade abseits des quirligen kulturellen Lebens, zum Beispiel in einem Dorf wie Amsteg, das an der Reuss liegt und «fast dem Bristenstock entsprungen» zu sein scheint. Steil ragt dieser Berg empor, schon von weitem als Pyramide zu erkennen. Sollte er daher nicht auch in seinem Innern gleich den Pharaonengräbern ein Geheimnis bergen? Mit sicherem Stift entwirft Leonor Gnos die Topografie ihres Herkunftsdorfes an der Gotthardstrecke, spricht von Wäldern, Lawinentälern, Felsen und dem hohen Himmel, lässt den Kerstelenbach rauschen und in die Reuss münden, während «der Bussard sein klagendes Lied in die Sternbilder wirft».

Sehnsucht keimt in der Seele auf. Soll sie in die Höhe wachsen, mit der Bahn in den Süden ziehen oder lieber die Richtung gegen Norden einschlagen? Im Kopf der jungen Frau liegt die Landkarte bereit, welche ihr die Wege aus der Enge in die Welt aufzeigt. Aus der Spannung zwischen Nähe und Ferne wird sie Impulse für ihr Schreiben beziehen, wird auch immer wieder aus den Städten, die sie bereist oder zum Wohnort gewählt hat, in ihr Dorf zurückkehren: auf den Friedhof, wo die Toten ruhen, zu den Bäumen, in denen «der Puls der Natur» schlägt. Denn noch immer vermag das Dorf «einen Leitfaden von Glanz und Einzigartigkeit» aufzurollen.

In der Gegenwelt pulsierender Metropolen aber erfährt das Ich die Vielgestaltigkeit menschlicher Schicksale, wird von Eindrücken überschwemmt und im Menschenstrom der Ansässigen und Flüchtlinge vorangetrieben: mitten in einer Stadt wie Marseille, wo die Autorin seit 2010 wohnt, nachdem sie von 1988 bis 2009 in Paris gelebt hat. «Wege des Abschieds der Ankunft und wieder des Abschieds» zeigen sich dem lyrischen Ich, helle und dunkle Erfahrungen durchdringen einander. Leonor Gnos spricht davon in behutsamer Distanz, vom «Tumult einer Nacht» etwa, überhaupt wiederholt von Nächten, an deren Ende «die helle Schwelle ein Geheimnis» in sich trägt. Was ist es, was den nächtlichen Schmerz geweckt hat? Wir wissen es nicht und sollen es auch nicht wissen, denn die Sprache der Poesie will einen Rest an Ungesagtem bewahren.

Sie, die Poesie, gilt es zu retten – Tag für Tag. Als «Tageswerk» hat sich dies Leonor Gnos vorgenommen. In einem Gedicht aus dem Zyklus «Dekade» erzählt sie unumwunden davon, wie sie morgens ihre Aufgabe anpackt: «…gleich die Wortfarben mischen das Fenster öffnen/ im sonnenwarmen Lichtstaub den Zweifel überlisten…». Ebenso heisst es in einem der «Quartette» unmissverständlich:»… springe ins Netz meiner Worte…», stets darauf hoffend, dass dieses Netz sie trägt. Beide Male ahnen wir die Kühnheit, mit der Leonor Gnos ans Werk geht und Hindernisse wie etwa aufkommende Zweifel beherzt überwindet. Dies muss sein, weiss sie doch um das Gefühl, «ohne Denken und Schreiben auszurutschen». Der Boden der Existenz ist kein sicheres Terrain, ist es nie gewesen – ausser vielleicht in der Kindheit.

Was bleibt, ist ein namenloser Wunsch. Und unversehens steht ein Satz da, schmerzhaft schön:

«…kein Stern zu fern/ du warst der leiseste Schlaf in mir…».

Beatrice Eichmann-Leutenegger
Literaturkritikerin