Im Königreich Nirgendwo

Sämtliche Zukunfts-Novellen

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Über das Buch
Die Erzählungen
Von Carl Grunerts Novellen, die man heute wohl zu einem großen Teil als „Scientific Romances“ – immerhin 18 von 33 Novellen sind solche im Wissenschafts-Milieu spielenden Liebesgeschichten – oder sogar als „Science Fiction“ bezeichnen würde, haben nur einige wenige die seit ihrer ersten Veröffentlichung zu Anfang des 20. Jahrhunderts (zwischen 1903/1904 und 1914) vergangenen Jahrzehnte vorwiegend deshalb überdauert, weil sie in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts in vereinzelten Kurzgeschichten-Sammlungen nachgedruckt worden sind. Der größere Teil seiner Novellen (Romane hat er, soweit bisher bekannt, nicht geschrieben, jedenfalls nicht veröffentlicht.) ist aber, ebenso wie seine Gedichte und seine Theaterstücke, inzwischen weitgehend aus dem Blickfeld geraten.
Carl Grunert kannte und schätzte zwar seit seinem zwölften Lebensjahr Jules Verne, vor allem aber war er, wie schon erwähnt, ein großer Bewunderer und Verehrer des „Vaters der deutschen Science Fiction“, Kurd Laßwitz, dem er nachzueifern versuchte, wozu er sich auch offen bekannte, also kein bloßer Plagiator sein wollte. So gibt es in Grunerts utopisch-technischem Werk (nach derzeitigem Stand 33 Novellen) mehrere Erzählungen, die Motive aus den Werken von E. T. A. Hoffmann (1776–1822), Jules Verne, Kurd Laßwitz und H. G Wells aufgreifen und reflektieren, daneben aber auch durchaus eigenständige Ideen in origineller Weise vorstellen. Viele dieser Novellen, obwohl sie am wenigsten bekannt sind, haben bis heute ihren Reiz behalten und sind vergnüglich und teilweise sogar sehr spannend zu lesen.
Aus seinem Zueignungs-Gedicht in Im irdischen Jenseits ist zu entnehmen, dass er „Aus schwerer Krankheit neu erwacht zum Lichte …“ und „… gefesselt noch von fliehender Krankheit Bann …“ den 1897 erschienenen zweibändigen Roman Auf zwei Planeten von Kurd Laßwitz gelesen hatte und von ihm stark beeindruckt, ja „gefangen“ war.
Neben dem ausgiebigen Gebrauch des Gedankenstrichs, sei es als Mittel der Verstärkung oder als „Pausenzeichen“, fällt auf, dass Grunert sehr oft seltsame Namen verwendete: Der geduldige niederländische Leiter der Friedenskonferenz in Den Haag heißt in der Novelle Im Fluge zum Frieden „van Geduldjen“, der unaufrichtige (also lügende) britische Vertreter heißt „Lyell“, der ernste deutsche Abgesandte trägt den Namen „Ernst“. Ein scheinbar unzerbrechlicher Erfinder heißt in der gleichnamigen Novelle „Mr. Infrangible“, sein Widerpart, ein bluffender Unternehmer, nennt sich „Mr. Bluff“. Ein Professor, der sich mit der Erforschung der Menschenaffen befasst, trägt in der Novelle Der schreibende Affe den Namen „Monkey“. Der Finder besagten Eies in Das Ei des Urvogels in der Sammlung Der Marsspion heißt „Dr. Finder“, der beglückte Professor „Diluvius“. Ein schreibgewandter Journalist heißt, wie die Novelle selbst, „Vivacius Style“, sein Arzt „Magnus Magician“. Der eine Astronom in Das Ende der Erde? heißt „T. E. Leskop“, der andere „O. B. Servator“. Die Motive Grunerts hierfür sind nicht erkennbar, zumal zumindest die letztgenannte Novelle nicht als Humoreske angesehen werden kann. Andererseits lässt er in Der Marsspion in der realen Sternwarte in Flagstaff (Arizona, USA) den realen Astronomen Mr. ([Percival] Lowell und seinen ebenso realen Assistenten [Carl Otto] Lampland auftreten.
Eine Würdigung seines Werkes 5, auch wenn man sich nur auf seine Novellen beschränkt und die fast vergessenen Gedichte und Dramen beiseite lässt, fällt nicht leicht: Carl Grunert hat stets auf seine Vorbilder, vor allem auf Laßwitz, hingewiesen und eingeräumt, dass seine „Skizzen … von ihrem Vorbild noch | Soweit entfernt, als wie die Nacht vom Tag“ waren 6, doch hat er im weiteren Lauf seines Schaffens an Sicherheit gewonnen und auf seinem Gebiet der Kurzgeschichte (also der deutschen „SF-Story“) eine Bahn gebrochen und einige literarische Perlen hinterlassen.
Von den 33 Novellen stehen einige in einem inneren Zusammenhang oder wenigstens doch in lockerer Beziehung zueinander:
In drei Novellen (Die Radiumbremse, Adam Perennius, der Zeitlose und Mysis) bildet die „Abendschule“, eine Art gehobener literarischer Stammtisch, das Handlungsfeld, in dem ein Ich-Erzähler (Grunert?) berichtet und in der Novelle Mysis (enthalten in Der Marsspion) an eine in Feinde im Weltall? enthaltene Vorgeschichte anknüpft. Vorbild für diese „Abendschule“ könnten E. T. A. Hoffmanns „Serapionsbrüder“ oder, in verkleinerter Version, die von Kurd Laßwitz mitbegründete und maßgeblich geprägte Gothaer „Mittwochs-Gesellschaft“ gewesen sein.
Die Novellen Der Mann aus dem Monde, Die Maschine des Theodulos Energeios und Der Ätherseelenmensch stehen insofern in einem Zusammenhang, als der Ich-Erzähler (Grunert?) in beiden Fällen u. a. von seinem „Freund Hintze“ berichtet; ein „Professor Hintze“ spielt auch eine Rolle in der Erzählung Gefangener Sonnenschein aus der Sammlung Im irdischen Jenseits. In den Novellen Die Fern-Ehe und Das Geschenk des Oxygenius werden erstmals Personen (z. B. Fritz Oldenburger und Felix und Maud Ridinger) eingeführt, die uns 1908 in Ballon und Eiland im Sammelband Der Marsspion wieder begegnen.
Die wenig bekannte Novelle Das weiße Rätsel überrascht auch die heutigen Leserinnen und Leser als „moderne“ UFO-Entführungs-Geschichte. Zwar hat es in der utopisch-phantastischen Literatur auch vorher schon Begegnungen von Menschen mit Außerirdischen und Mitnahmen in deren Weltraumfahrzeugen gegeben, aber Das weiße Rätsel wirkt in keiner Weise antiquiert, sondern strahlt eine Spannung und einen „sense of wonder“ aus, die von heutigen Autoren und Filmemachern kaum eindrucksvoller erreicht werden.
Gleiches gilt für Ein Rätsel der Lüfte: Die hier unternommenen Versuche, eine unvertraute Himmelserscheinung zu deuten und dabei auf natürliche oder technische Ursachen zurückzuführen, nehmen die Argumentationsweisen und die Diskussion vorweg, die sich Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts an den ersten UFO-Meldungen entzündeten. Sogar das Problem der Auswertung fotografischer Aufnahmen als Beweismittel wird plastisch geschildert.
Die in Menschen von morgen enthaltene Novelle Das Geschenk des Oxygenius knüpft schon dem Titel nach und auch inhaltlich an Jules Vernes Le Docteur Ox (1874; dt. Eine Idee des Doktor Ox, 1875) an, behandelt aber nicht nur die Auswirkungen eines erhöhten Sauerstoffgehalts in der Atmosphäre auf Menschen, sondern auch auf Verbrennungsmotoren und Dampfmaschinen, insbesondere Lokomotiven. In der Ausführungstiefe steht Grunert damit zwischen Jules Vernes Novelle Doktor Ox und Raymond F. Jones’ Roman The Year when Stardust Fell (1958; dt. Sternenstaub, UTOPIA-GROSSBAND 124, Rastatt:, Erich Pabel, 1960), in dem die allgemeinen gesellschaftlichen Folgen des Versagens von Maschinen bis hin zu Hungersnöten drastisch geschildert werden.
Die Novelle Die Maschine des Theodulos Energeios hat offenbar Bezüge zu Grunerts über Jahre hindurch schlechten Gesundheitszustand. Schon in seiner erstmals 1907 erschienenen und 1908 in Der Marsspion und andere Novellen nachgedruckten Novelle Heimkehr behandelte Grunert das Thema der schwindenden Lebenskräfte und damit seine eigene Befindlichkeit.
Die am weitesten verbreitete letzte Novellen-Sammlung Der Marsspion und andere Novellen, die in mehreren Ausgaben und Einbandvarianten (erstmals 1908) erschienen ist, enthält, bis auf die schon 1907 veröffentlichten Novellen Heimkehr und Mr. Vivacius Style, ausschließlich Originalbeiträge. Die immer wieder zitierte Zeitreise-Novelle Pierre Maurignacs Abenteuer ist später, wie sich der Bibliografie entnehmen lässt, mehrfach nachgedruckt worden. In Meidingers Knaben-Buch ist die Erzählung übrigens 1921 unter dem Titel Abenteuerliche Reisen mit der Zeitmaschine und in eingedeutschter Fassung enthalten: Aus Pierre wurde Peter, aus Jeanne Hilde, aus dem Maire der Bürgermeister usw.
Gerade Der Marsspion, Das Ei des Urvogels und Pierre Maurignacs Abenteuer enthalten deutliche Bezüge zum Werk von H. G. Wells, der in der letztgenannten Novelle sogar durch ein Telegramm zum Mitwirkenden wird. Ballon und Eiland wirkt wie eine Kurzfassung von Jules Vernes Geheimnisvoller Insel. In dieser Novelle treffen wir in dem Ehepaar Fritz und Grete Oldenburger übrigens Bekannte aus der Sammlung Im irdischen Jenseits wieder, ebenso wie in Mysis den Protagonisten Justus Starck aus Feinde im Weltall?. Katalyse zeigt sich als originelle Liebesgeschichte. Die letzte Novelle, Heimkehr, enthält, wie schon ausgeführt, autobiografische Züge: Der Erzähler (Grunert) wird durch eine wundersame Brille u. a. in die Lage versetzt, gespiegelt durch die Scheiben eines Stadtbahnzuges, seinen kranken, in jeder Hinsicht verbrauchten und kurz vor dem Ende stehenden Körper zu erkennen.
Das Geleitwort zur 1908 erschienenen Novellensammlung Der Marsspion (Grunert hatte sich eigentlich den Titel „Im Königreiche Nirgendwo“ gewünscht; dieser Wunsch wird ihm nun mit der vorliegenden Neuausgabe nachträglich erfüllt.) hat der Chefredakteur der Zeitschrift ARENA, Karlernst Knatz (1882–1951), geschrieben. Dies Geleitwort, das im Anhang wiedergegeben wird, enthält einige wenige Hinweise zu Grunerts Biografie und eine erste ausdrückliche Würdigung seines Werkes.

Editorische Hinweise
Dieser Gesamtausgabe liegen die unten aufgeführten Ausgaben „letzter Hand“ (also die zu Grunerts Lebzeiten zuletzt erschienenen) Veröffentlichungen zugrunde, die zwischen 1887 und 1914 in folgenden Sammelbänden und Zeitschriften erschienen sind oder sich im Nachlass von Kurd Laßwitz befinden. Weitere Daten enthält die Bibliografie am Ende des Buches.

Carl Grunert (1865–1918)
Über Carl Grunerts Leben ist wenig bekannt. Die folgenden Lebensdaten sind nur bruchstückhaft und können eine noch immer fehlende Biografie nicht ersetzen, sondern nur als vorläufige Darstellung dienen.
Carl Grunert wurde am 2. November 1865 im damals zu Preußen und heute zu Sachsen-Anhalt gehörenden Naumburg an der Saale geboren. Nach dem Besuch des Lehrerseminars in Weißenfels (Burgenlandkreis, Sachsen-Anhalt) war er einige Jahre in seiner Heimatstadt Naumburg als Lehrer tätig, u. a. am Domgymnasium.
Schon im Alter von 21 Jahren (1887) veröffentlichte er unter dem Pseudonym „Carl Friedland“ den im übertragenen Sinne „mit Herzblut“ verfassten Gedichtband Schlichte Gedichte. Es folgten in den beiden Jahren darauf, diesmal unter seinem bürgerlichen Namen, die (wahrscheinlich nie aufgeführten) Dramen Judas Ischarioth (1888) und Ihr seid geschieden! (1889). Diese drei Frühwerke brachten ihm in seiner privaten und wohl auch beruflichen Umgebung „Enttäuschung, ja auch Anfechtungen und Verdächtigungen“ ein. Diese negative Erfahrung veranlasste Grunert, zusammen mit seiner Ehefrau Erna geb. Huth, die er 1889 geheiratet hatte, Naumburg zu verlassen und nach Berlin zu ziehen, wo er weiterhin als Lehrer arbeitete.
In den 14 Jahren von 1889 bis 1903 trat Carl Grunert als „gebranntes Kind“ schriftstellerisch nicht in Erscheinung. Er nutzte aber die zahlreichen Bildungsmöglichkeiten der Reichshauptstadt (Er wohnte in Berlin-Moabit in der Wiclef- und der Stephanstraße.) insbesondere auf den Gebieten der Physik und Chemie und besuchte über mehrere Jahre akademische Vorlesungen.
Carl Grunert war, was sich in fast seinem gesamten erzählerischen und dichterischen Werk widerspiegelt, Zeit seines Lebens kränklich, und zwar an Körper und Seele, mit den jeweils verstärkenden Wechselwirkungen. Hinzu kamen, nach offenbar tief-schmerzlich empfundenen Liebes-Enttäuschungen in seiner Jugendzeit, schwere Schicksalsschläge: Der Sohn Hans war offenbar im Kleinkindalter verstorben, wahrscheinlich im Kindesalter auch eine Tochter namens Else; beiden hat der Vater in Gedichten 3 gedacht. Geblieben war der Familie der Sohn Carl Georg Friedrich (1899–1966), der Diplom-Chemiker geworden ist und 1925 mit einer Dissertation auf dem Gebiet der Chemie promovierte.
Nach einer durchlittenen schweren Krankheit lernte Carl Grunert die Werke von Kurd Laßwitz kennen und schätzen, was ihn nach langer Pause wieder zu schriftstellerischer Aktivität ermutigte, wobei er sich erklärtermaßen an seinem großen Vorbild orientieren wollte. So widmete er diesem denn auch „in dankbarer Verehrung“ seinen ersten Novellenband Im irdischen Jenseits mit einer besonderen Zueignung. In diesem Zusammenhang hat er fünf Briefe an den Professor in Gotha geschrieben, die im Anhang der Gesamtausgabe vollständig abgedruckt werden. Die Antworten sind leider nicht mehr erhalten. Es folgten bis 1914 die weiter unten genannten Erzählungen und Gedichte.
Carl Grunert litt über Jahre hinweg an Schlaflosigkeit, was zu einem immer stärkeren Gebrauch von Barbitursäure führte. Der regelmäßige Gebrauch von Schlafmitteln vom Barbiturat-Typ birgt eine erhebliche Suchtgefahr. Offenbar hatte sich eine solche Abhängigkeit entwickelt. Als der gerade 19-jährige Sohn Carl Georg Friedrich im Frühjahr 1918 weitgehend zu Fuß als Soldat von der Ostfront zurückkehrte, fand er seinen inzwischen in Erkner bei Berlin (in der Nähe des Müggelsees) wohnenden Vater mit einer schweren Barbiturat-Vergiftung und überhaupt krank vor. Nachdem der Sohn, in bester Absicht, ihm die Barbitursäure weggenommen hatte, verschlechterte sich der Zustand des Vaters, wohl bedingt durch die schweren Entzugsfolgen, drastisch. Angesichts seines schlechten Gesundheitszustandes in Verbindung mit den Folgeerscheinungen des plötzlichen Entzugs und der mangelhaften medizinischen Versorgungslage im letzten Kriegsjahr erlag Carl Grunert schließlich am 22. April 1918 in Erkner bei Berlin einer Lungenentzündung.