Kaukasien-Kaukasus-Bibliothek

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Wer hat nicht schon einmal die Nase voll gehabt vom Lärm der Stadt, vom Ehepartner oder von der Oberflächlichkeit der Mitmenschen. und sich nach einem stillen, weit abgelegenen Winkel gesehnt?

Die Hauptgestalt des Romans, der Ingenieur Washika, hat die Möglichkeit, diesen seinen Traum Wirklichkeit werden zu lassen. Als er sich nämlich auf der Suche nach Kupfer im von der Zivilisation unberührten Chewsureti (Teil Georgiens) in den Bergen verläuft, stößt er plötzlich auf ein verborgenes Dorf, wo er den alten Freund Dshurcha, mit dem er einst in Tbilissi den Bruderschwur ablegte, wiedertrifft und dessen Familie ihn herzlich aufnimmt. Die Freude paart sich mit dem Umstand, dass Washika Chatuta, einer hübschen, anziehenden, und noch unverheirateten Frau begegnet, die ihn ebenfalls äußerst liebenswert findet. In der ersten Nacht im Dorf wird Chatuta (gemäß dem Brauch der Chewsuren) als Zazali zum Gast geschickt, d.h. Chatuta teilt mit ihm das Lager, ohne dass er das Recht besitzt, sie sich ganz zu Eigen zu machen. Zwischen ihr und Washika entbrennt eine leidenschaftliche, ungestillte Liebe. Chatuta gefällt dem Städter durch ihre Schlichtheit, Genügsamkeit, Weiblichkeit. Ständig, in jeder Situation, vergleicht er sie mit seiner städtischen Ehefrau Zuzkia in Tbilisi, einer „emanzipierten“ Dame, die sich Washika „geangelt“ hatte.

Kein Wunder, dass Washika das Angebot der Chewsuren, ein Teil ihrer Gemeinschaft zu werden, nur zu gern annimmt. Ihm gefällt alles in Chewsureti: die feste Familienbande, die Aufmerksamkeit ihm gegenüber, die Jagd, die Märchen und Legenden, die lustigen Abende; es gibt keinen Kalender, keinen Stress und viel Erholung.

Eines Tages beleidigt der eifersüchtige Rivale Datwia den Städter Washika. Da jener sich nicht wie ein Chewsure mit der Waffe verteidigt, wird er von allen Ansässigen verachtet; die Familie Dshurchas ist tieftraurig, da ihr Ansehen leidet. Nun entschließt sich Washika zum Kampf, aber wird er Datwia töten, wird er zum Mörder und so die „Familienehre“ wiederherstellen?

Eines Tages sieht Washika auf der Jagd die Gombori-Berge und denkt an die Ebene; ein bisschen Wehmut befällt ihn. Da er schließlich noch Schwefel und Kupfer findet, wird er noch stärker an sein verlassenes Leben erinnert, zumal er seinen blütenweißen Kragen vermisst. Als plötzlich ein Flugzeug am Himmel auftaucht und die Chewsuren ohnmächtig in ihrer Angst sind und Haus und Hof sinnlos mit Gewehren verteidigen, ist der Konflikt vollkommen. Erkennt Washika, dass er sich selbst betrogen hat? Wird er und kann er überhaupt aus der Gemeinschaft ausbrechen und in die Stadt zurückkehren?

Da der Roman in der Ich-Form geschrieben ist, ergibt sich eine Identifizierung des Lesers mit dem sympathischen Protagonisten von allein, zumal die innere Entwicklung der Hauptgestalt, das Überdenken seiner Positionen und seine Entscheidung sehr überzeugend gestaltet sind. Die philosophisch-psychologische Studie mit der interessant erzählten Romantik des Lebens in Chewsureti wird beim Leser einen großen Anklang finden, zumal der zeitliche und geografische Abstand zum heutigen Europa solche Konflikte wie Familienehre und Blutrache von Außen klarer sichtbar macht, in der Draufsicht zuspitzt, verschärft und entfremdet.

Der Wunsch nach einem Ausstieg aus dem Lebenstrott ist durchaus verständlich, aber mit Gefahren verbunden: wir fragen uns heute manchmal, was suchen und finden europäische Bürger in der Abgeschiedenheit oder gar bei Terrororganisationen der heutigen Welt. Unter dem Eindruck dieser Fragestellung erlangt der Roman eine ganz neue Dimension. Sogar ein moderner, intelligenter Mensch wie Washika erfährt neben dem romantischen Leben in Chewsureti auch die starren Strukturen der Lebensführung, die gefährlichen Auffassungen Dshurchas. Welche Anziehungskraft wirkt da, welche Sehnsucht nach Geborgenheit und einem festen Gefüge?

Der Roman des georgischen Autors Micheil Dshawachischwili (1880-1937), der in den 1920er Jahren geschrieben und im Jahre 1926 erstmals veröffentlicht wurde, ist außer für die private Lektüre auch ganz besonders für Literaturdiskussionen unter Jugendlichen geeignet.