Kaukasien-Kaukasus-Bibliothek

Prosa – Lyrik – Drama

von

In Georgien wird seit mindestens 15 Jahrhunderten Literatur geschrieben. Der vorliegende Sammelband ist der erste Versuch, georgische Schriftstellerinnen aus diesen vielen Jahrhunderten in einem Buch zu vereinen. In früheren Anthologien und Sammelbänden wurden in Georgien wie fast überall überwiegend männliche Autoren gedruckt, herausgegeben und übersetzt. Dabei verfügt die georgische Literatur über einen wahren Schatz. Seit dem 11. Jahrhundert sind Äußerungen von Autorinnen belegbar ? damit können nur wenige Nationalliteraturen aufwarten.

Als die Idee geboren wurde, georgische Schriftstellerinnen mit ihren Werken in die deutsche Sprache zu „transferieren“, war noch nicht abzusehen, welche Schwierigkeiten ein solches Unterfangen bereiten würde, da nur sehr wenig Vorarbeiten bzw. Forschungen zur Verfügung standen. Das Auffinden von Namen, Texten, Geburts- und Sterbedaten, biografischen Angaben usw. stellte sich schon allein als Kraftakt heraus, der viele Jahre füllte.

Mit dem Buch wurde indes nicht das Ziel gestellt, alle georgischen Schriftstellerinnen mit ihren Werke erschöpfend zu erfassen. Einerseits sind sie so überaus zahlreich, dass sie gar nicht alle in einer Publikation unterzubringen wären, andererseits sollten hier nur diejenigen Autorinnen einen Platz finden, die dem Leser heute noch „etwas mitzuteilen“ haben. Es galt also einzugrenzen. Da die noch lebenden georgischen Autorinnen derzeitig viel eher die Möglichkeit besitzen, gedruckt und übersetzt zu werden, wurden sie von vornherein ausgespart.

Die so ausgewählten 56 Schriftstellerinnen wurden nach ihren Geburtsjahren geordnet, sodass eine gewisse Chronologie entstand, die dem Leser erlaubt, neben Literatur teilweise auch georgische Geschichte zu erfahren.

Der erste Teil umfasst den historischen Abschnitt ausgehend vom 11. Jahrhundert. Da der Leser gewöhnlich kein Vorwissen über Geschichte, Literatur, die Literaturauffassung und –form Georgiens dieser Zeit besitzt, wurden kurze Angaben zu den Autorinnen (sofern sie bekannt sind wie: Herkunft, Gesamtwerk, das übersetzte Werk und ? wenn nötig ? auch Angaben über die literarische Form) beigefügt.

Die ersten uns mit ihrer Literatur überlieferten georgischen Autorinnen waren Königinnen, Königstöchter, Nonnen und Ehefrauen von Geistlichen, später stießen Angehörige aristokratischer Familien – Ehefrauen oder Töchter – hinzu. Im 19. Jahrhundert schrieben Journalistinnen, Lehrerinnen, Hebammen, Mitarbeiterinnen von Frauenvereinigungen, Publizistinnen, Kulturschaffende und Schauspie-lerinnen neben ihrer eigentlichen Tätigkeit schöngeistige Literatur.

Der zweite Teil des Buches vereinigt Autorinnen, die im 20., manchmal bis ins 21. Jahrhundert lebten. Ihre literarischen Werke sollen ohne besondere Erklärungen auf den Leser wirken. Einige Frauen waren z. T. als Berufsschriftstellerin tätig, manche wirkten als Lehrerin, Wissenschaftlerin, Übersetzerin, Journalistin, Publizistin, Malerin, Ökonomin oder Leiterin des Literaturmuseums. Hier unterscheiden sich Leben und Tätigkeit der Autorinnen kaum von denen in anderen europäischen Ländern. Dennoch sei hier eine Besonderheit vermerkt: obwohl sie in der Neuzeit wirkten, sind deren Werke seltener gedruckt aufzufinden, viele biografische Details unbekannt, manchmal sogar Geburts- und Sterbejahr unauffindbar. Hier zeigen sich einerseits eine besondere Bescheidenheit georgischer Frauen und andererseits der unaufmerksame Umgang der Gesellschaft mit ihnen. Manchmal gelang es, über die Familienangehörigen an Texte zu gelangen und so fehlende Angaben zu vervollständigen. Weitere Erklärungen für die ungenügende Aufarbeitung der Literatur weiblicher Autoren könnte in der Tatsache begründet sein, dass die Frauen seltener in Schriftstellerverenigungen und kulturellen Schaltstellen tätig waren bzw. verglichen mit ihren männlichen Kollegen mehr Literatur für Kinder schrieben, was entweder nicht als „vollwertige“ Literatur anerkannt wurde und/oder nicht zu einer Rezensionstätigkeit bzw. wissenschaftlichen Erforschung herausforderte.

Als die Arbeit begonnen wurde, war noch nicht zu erahnen, welch unterschiedliche Themen und Formen in Epik, Lyrik und dem Drama zum Vorschein kommen würden. Das thematische Spektrum reicht von sehr privatem Empfinden bis zur Verantwortung gegenüber der ganzen georgischen Nation. Bezüglich des Letzteren seien stellvertretend die Töchter des georgischen Königs Erekle II. genannt, die den Verlust des unabhängigen Georgiens (1801 an Russland) beweinen.

Das literarische Spektrum reicht von Hymnen und Gedichten über Rätsel und Drama bis zu historischer Prosa. Damit unterscheiden sich die Frauen kaum von ihren georgischen männlichen Schriftsteller-kollegen.

Ekaterine Gabaschwili, die in Georgien wohl bekannteste Prosaautorin des 19./20. Jahrhundert, wurde im Band mit drei Werken ein größerer Platz eingeräumt. Verwunderlich ist, dass bislang kein einziges Werk von ihr in die deutsche Sprache übertragen wurde. Auch die im In- und Ausland sehr bekannte Lyrikerin Ana Kalandadse war gerade einmal mit einem Dutzend Gedichten in verschiedenen deutschen Zeit-schriften vertreten. Hier allerdings lässt sich eine Erklärung finden. Wie sich herausstellte, sind ihre Werke nur schwer in eine andere Sprache übertragbar.

Ein Gedichtsfund gab selbst den Georgiern Rätsel auf: das Geständnis einer lesbischen Frau an ihre Angebetete im 19. Jahrhundert. Wie war es möglich, dass dieses Gedicht 1871 in einer georgischen Zeitschrift gedruckt wurde? Ganz zufällig stieß ich auf dieses Werk, und wer weiß, wie viel solcher „Geheimnisse“ in Zukunft noch zu entdecken sein werden!?

Einige von mir persönlich favorisierte Autorinnen wie Esma Oniani und Ana Mcheidse aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind heute selbst unter georgischen Literaturwissenschaftlern kaum bekannt. Beide starben allerdings in jungen Jahren. Während die Malerin Esma Oniani bis zu ihrem Tod immerhin schon vier Lyrikbände aufzuweisen hatte, waren einzelne Erzählungen der Ökonomin Ana Mcheidse nur in Literaturzeitschriften erschienen. Ana Mcheidse schien ihre Erzählungen überhaupt eher für sich selbst zu schreiben, die erste war von ihrem Mann in die Literaturredaktion getragen worden. Nach dem Tod bemühten sich die Familienangehörigen der beiden Autorinnen um noch ungedruckte Werke bzw. für eine kompakte Herausgabe. Die Schwester Irine Oniani veröffentlichte im Jahre 2000 ein Buch mit Gedichten, Essays und Artikeln Esmas, und im Jahre 2003 gab sie einen Band über die Malerei und Graphik (im Verbund mit Lyrik) heraus. Im Jahre 2006 erschien in einem Selbstverlag ein Band mit Erzählungen Ana Mcheidses, die damals bereits acht Jahre tot war. Ihr Bruder hatte alle Geschichten zusammengefasst und herausgegeben.

Mit dem vorliegenden Band wird sicher offensichtlich, dass die jungen georgischen Autorinnen Tamta Melaschwili, Ana Kordzaia-Samedaschwili, Maka Mikeladze, Irma Shiolashvili, Ekaterine Togonidze, Eka Tchilawa, Nestan Kwinikadze, die deutschsprachige Nino Haratischwili u. a. wohl kaum aus dem Nichts aufgetaucht sind, sondern dass in Georgien bereits eine lange Tradition weiblicher Literatur bestand, die es im Kaukasus und bei uns nun zu entdecken gilt.