Kein menschlicher Makel

– weder gestern noch heute –

von

Als ältere Frau sucht Ruth eine Psychotherapeutin auf, weil sie unter Depressionen leidet. Die Erlebnisse der Vergangenheit lassen sie nicht los. Sie erzählt, dass sie sich ausgegrenzt, diskriminiert und bedroht fühlte, wenn alle Kinder an besonderen Tagen in ihrer Uniform um die Hakenkreuzfahne herum angetreten waren und sie als einzige in ihrem Schulkleid dabeistand. Sie empfand es wie ein Spießrutenlaufen. Manchmal riefen Kinder ihr „Jude“ oder „Itzig“ nach. Wenn der Lehrer gegen die Juden hetzte und Aufsätze schreiben ließ mit Themen wie „Das nationalsozialistische Deutschland und das Weltjudentum“ war ihr elend zumute. Zunächst verstand sie das alles nicht. Sie verstand auch nicht, warum sie die verdiente Auszeichnung beim Sportfest nicht bekam. Dann musste sie erleben, wie ihr Vater verhaftet wurde. Ein Schock war es für sie, als er wiederkam und sie sein ausgemergeltes Gesicht und seinen kahl geschorenen Kopf sah, der voller blutiger Stellen war. Später hat sie in Berlin den Bombenkrieg und den Einmarsch der Russen erlebt. Um nach Hause zu kommen, machte sie sich zu Fuß auf durch die zertrümmerte Stadt bis zu einem Bahnhof, von dem Züge bis zur Grenze fuhren. In Magdeburg war Endstation. Die Elbe war damals die Grenze zwischen Ost und West. Ruth fasste Mut und schwamm hinüber in den Westen.

Die Psychotherapeutin bleibt in der Erzählung eine stumme Zuhörerin.