Lateinamerikanische Lyrik

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Das Buch ist ein Traum, der redliche, ernsthafte Traum einer besseren als jener krisengeschüttelten, grimmig-zynischen und in jeder Hinsicht gebeutelten Welt: der Traum von einer gerechten Welt, in der gewisse humanistische Traditionen und Entwicklungen innerhalb der jüdischen Kultur nicht allein für jene, sondern für alle Menschen zurückgewonnen werden können. Der poetische Traum entsteht aus der Zukunft, wiewohl er an die Vergangenheit gekoppelt wird und in der Gegenwart geschieht, indem er unverblümt im Zeitenkreis oder Rad der Zeit webt.

Wer ist Piatock? Es gab ihn wirklich. Er war vor rund hundert Jahren ein paríkmaker, ein Friseur und Perückenmacher, im osteuropäischen Schtetl Berdytschiw, einem kulturellen Knotenpunkt für Juden, Polen und Ukrainer seit dem 17. Jahrhundert bis zur Shoa. Piatock war neben seinem Handwerksberuf als Haareschneider und Bartscherer sehr hilfsbereit, wenn es etwa darum ging, eine Latrine mit bloßen Händen zu reinigen oder die Jauchegrube mit der Forke auszuheben und – im wahrsten Wortsinn – den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Er hatte ein Händchen und gutes Gespür für Pferde, denen er ins Ohr flüsterte, manche meinten: ‚vielleicht ein Gebet.‘, andere zweifelten eher: ‚besser ist‘s, nicht zu wissen.‘ Jedenfalls war er für jede Notlage und jedes Elend stets tatkräftig und herzensrein zu haben, um mit seiner bescheidenen Mühe dem Weltenlauf die Bürde dieses entscheidenden Augenblicks leichter ertragbar zu machen, kurz gesagt: dem Barbier von Berdytschiw oder naiven Figaro der Nächstenliebe eilte der mehr nutzbringende als liebevolle Ruf eines weltfremden Hinterwäldlers voraus, wenn nicht gar derber: eines sonderbaren Dorftrottels, eines schrägen Hanswursts vom Jahrmarkt, eines warmherzigen dummen Augusts, der sich ansonsten mit der Geringachtung und dem Scheitern abgefunden zu haben schien.

Der Vater des 1940 in Buenos Aires geborenen Dichters Alberto Szpunberg war Uhrmacher und floh im frühen 20. Jahrhundert aus seinem Geburtsort Berdytschiw vor der Armut, dem Kriegsgeschrei und den zaristischen Pogromen nach Argentinien, wo er ein bißchen später gerne seinem Sohn von der fernen Heimatstadt erzählte, in der Berühmtheiten wie Balzac gelebt hatten, der in Berdytschiw seine Geliebte, eine russische Gräfin, die gerade verwitwet war, heiratete, wo der polnisch-britische Schriftsteller Joseph Conrad, der jiddisch-russische Dichter und Erzähler Pinchas Kahanowitsch, der ukrainisch-amerikanische Pianist Vladimir Horowitz und der russische Schriftsteller und Journalist Wassili Semjonowitsch Grossman das Licht der Welt erblickten oder der chassidische Rabbiner und Zaddik Levi Jizchak ben Meir von Berditschew (in der russische Schreibweise des galizischen Schtetls) predigte und den Reichen bisweilen ins Gewissen sprach, wenn er ihnen vorhielt, ‚die Matzen für das Pessachfest mit dem Schweiß der unterbezahlten Arbeiter zu kneten.‘ Als der letzte Zar Nikolaus II. nach der Februarrevolution abdankte, lief im Schtetl die Intelligentsia auf die Gassen und sang die Marseillaise, denn kaum jemand, weniger noch Piatock, der weniger als niemand war, konnte die Internationale singen; nur sehr wenige wußten dort vielleicht schon, sie vor sich hinzusummen. Die Französische Revolution von 1789 erreichte Berdytschiw schließlich erst 1917. Bald gehörte das Städtchen zur Ukraine, Polen oder Rußland und wurde vom Dritten Reich besetzt. Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und der Traum von großen Ideen, die die Welt bewegen, beflügelten und erhitzten die Gespräche mit dem Vater, der immer wieder darauf beharrte, daß ‚die Welt nicht eher gut in Gang kommt, bevor sie nicht von der Platonischen Akademie regiert wird‘. Alberto Szpunberg konterte mit jugendlicher Begeisterung: ‚Platon? Nein, Papa., sondern Piatock! Die Welt muß in die Händen der Piatock-Akademie gelegt werden!‘ Die höchsten Ziele sollten von einfachen Menschen beraten werden: ‚von ganz unten‘. Allein Piatock, der Hinterweltler, könnte die Gültigkeit von Vernunft, Schönheit und Gerechtigkeit für alle sicherstellen.

Mit dem Literaturstudium des Sohnes in Buenos Aires, bei dem er Jorge Luis Borges kennenlernte, dem Widerstandskampf in der Brigada Masetti, der Stadtguerilla, dem Militärputsch der argentinischen Gorillas vom 24. März 1976, dem Untergrund, der Flucht mit seiner Frau und ersten Tochter, dem Exil in Spanien und der Rückkehr nach Argentinien, entstand allmählich ‚Die Piatock-Akademie‘ zwischen Legende und Witzeleien als sein poetischer Entwurf und persönlicher Beitrag zum ‚Tikkun Olam‘, der Reparatur der Welt oder Weltverbesserung, wie es in einer Mitzwe des rabbinischen Judentums von den verzweifelten Kabbalisten im Mittelalter aufgegriffen wurde, um ein für allemal mit den inquisitorischen Verbrennungen aufzuhören, den eigenen und anderen. Piatock feierte natürlich den Schabbat und arbeitete samstags folglich nie, die Muße und Faulheit war ihm religiöses Gebot, weit bevor Paul Lafargue, ein Schwiegersohn von Karl Marx, sie zum Grundrecht erklärt hat. Piatock hielt sich jedoch ebenso an das heilige Gebot des Lebens, daß ihm und seinen Familienangehörigen beim Einmarsch der Nazi-Wehrmacht keinen Freitod erlaubte; gerade 15 Berdytschiwer Juden überlebten. Piatock heißt außerdem der Kater der jüngeren Tochter der Dichters, die im katalonischen Exil geboren wurde, und maunzt mitunter, obgleich er niemals durch die Berdytschiwer Gassen streifte, auch mal auf Jiddisch: ich hob gesén a ßach sachn in main lebn.

Nach der bitterbösen politischen Erfahrung in der guevaristischen Linken, dem Verschwinden von 30.000 Menschen durch den Staatsterror der letzten Militärdiktatur 1976-1983 und dem Scheitern des revolutionären Projekts in Argentinien, das weltweit auch keineswegs erfolgreich war und schlußendlich versandete, kam in ihm das Bedürfnis eines tiefgründigen Neuentwurfs auf, der sich in einzelnen Gedichten ausdrückte, die nach und nach mit der Stimme einzelner Mitglieder der Piatock-Akademie sprachen, als befänden sie sich in einer ständigen Versammlung und nähmen den alten Traum der Pariser Kommune erneut auf, der selbst in den Stadtviertelversammlungen 2001 in Buenos Aires auflebte. Darunter befinden sich Gestalten wie der Hungrige Kabbalist, der stottert (‚mit schwerem Mund‘), der Musiker César Stroscio am Bandoneón, der verschwundene Dichterfreund Miguel Ángel Bustos, ein ‚Luftmensch‘ wie der blaue Geigenspieler von Marc Chagall, ein Rabbiner in Lumpen, den es nach Ñancahuazu auf der Suche nach Che Guevara zieht oder der Bakuninsche Botaniker. Bei jeder einzelnen poetischen Wortmeldung kommen die jeweiligen Bedenken, Vorschläge und Sorgen auf den Tisch, erneute Handzeichen sowie Diskussionen miteinander. Der Mathematiker Merkell, bei dem man hier auf unerklärliche Weise an die Regentschaft der Physikerin Merkel denken könnte, warum auch nicht, möchte ja glauben machen, daß 1 + 1 nicht 2 sind. Der Glasarbeiter entdeckt den Zusammenhang zwischen den Glasscherben, die jeden Tag seine Hände verletzen, und dem Wüstensand, den er seit dem langen Marsch aus der Lohnempfänger-Sklaverei ins Gelobte Land durchquert, jenem eher befreiten, denn kartographierten Gebiet, in dem selbstverständlich für alle Milch, d.h. Nahrung, und Honig, d.h. Süße, ebenfalls eine unentbehrliche Lebensgrundlage, fließen würden.

Der rote Faden bleibt einstweilen Piatock vorbehalten, der immer wieder bereitwillig ansetzt, trotz seiner unermeßlichen Welterfahrung eine weitere, bislang ungeschaute Nuance im komplexen Weltenrund zu entdecken, die eine winzige Drehung mehr Schrecken oder Staunen hervorruft, welche das Leben fortlaufend beschert. Mehrfach ergreift der Bibliothekar der Akademie, Reb Arieh Leib ben Naftule, das Wort, der in längst gelesenen Büchern blättert und diese neu betrachtet, in echten Werken wie ‚Das Kapital‘ oder ‚Das Kommunistische Manifest‘ von Marx oder in alten Schriften, teils apokryphen, teils ungeschriebenen, teils erfundenen wie ‚Das Buch des Feuers‘, ‚Das Wolkenbuch‘ und manch andere. Zumal die Versammlung demokratisch und alle beteiligend ist, kommt auch das Pferd von Piatock zu Wort und erzählt von seinen Träumen und Alpträumen, wiehert seinen Liebeskummer, was andere Anwesende kommentieren und ausdeuten. Die Debatten der Piatock-Akademie speisen sich aus zwei wesentlichen Überlegungen, die den argentinisch-jüdischen Dichter maßgeblich bewegen, wie er eigens betont: ‚die tragische Krise (Letzter Verfall? Manchmal verzweifle ich.) des jüdischen Humanismus in den von erzrechten Regierungen Israels besetzten Gebieten Palästinas und die tragische Erfahrung des bewaffneten Kampfes in Argentinien. Beide Bezüge erlauben mir, zwischen dem philosophischen Hintergrund der ewigen Träume von einer besseren Welt (das ‚Gelobte Land‘) und den politischen Praktiker der Linken, seit der Pariser Kommune bis heute, hin- und herzugehen – besser gesagt: sie bringen und tragen mich genau dazwischen. Wenngleich beide Motive im Grunde eine gleiche Reflexion darstellen.‘
Die poetische Fortschreibung zeigt Spuren von Spruchzeilen und Versen, ähnlich der Bibel und dem Talmud oder dem Werk von Walt Whitman, jenseits des Diskursiven, und verknüpft sich hin und wieder bildhaft mit erzählerischen Elementen oder Episoden der Weltgeschichte, etwa der Erstürmung des Winterpalastes, der Erhabenen Unruhe von Artigas, den Folterkammern der argentinischen Diktatur, den ‚Verschwundenen‘ oder den Müttern der Plaza de Mayo, sowie der privaten Geschichtsschreibung der Einzelnen, wozu das Ausüben und Erleiden von Gewalt, Gefängnis, Folter, frustrierte Liebe und beschämende Entlohnung gehören. Eine religiöse Empfindung, sei sie konfliktiv oder harmonisch, übergeht niemals, sondern verbindet immer wieder das Persönliche und das Allgemeine, den Zweck und die Mittel, die Träume und die Wirklichkeit, die kollektive Gestaltung und die persönliche Freiheit, den Verstand und den Wahnsinn, die Macht und die Demokratie, den Verursacher und das Opfer oder den Befehl und den Gehorsam. Mit der ersten These seines Werkes ‚Über den Begriff der Geschichte‘ versucht Walter Benjamin, auf die Wesensverwandtschaft (im Sinne von Max Weber) zwischen Theologie/Religion (dem jüdischen Messianismus) und dem historischen Materialismus (Marx) hinzuweisen, die in zahlreiche Schriften von Adorno, Horckheimer, Habermas, Gershom Scholem, Yosef Hayim Yerushalmi und Michael Löwy einfließt. Gegenüber den fortschrittsgläubigen, linearen Zeitläuften, gemessen in Fünfjahresplänen, bekannte sich Benjamin zur qualitativen und vielschichtigen Zeit der stets offenen Geschichte, die nicht nur aus der Zukunft, sondern auch mit der Vergangenheit webt und somit erst gemeinsam die Gegenwart aperspektivisch erneuernd mitgestalten kann.

Eines schönen Tages schloß Alberto Szpunberg die Versammlungsakten der Piatock-Akademie, der er selbstredend angehört: ‚Auf bedrückende Weise empfinde ich die Tragödie Palästinas wie eine Wasserscheide. Die ethische Neubesinnung angesichts so vieler bleierner Übergriffe ist für die Juden aus allen Winkeln der Welt unbedingt nötig, beginnend mit Israel selbst, beginnend bei mir selber. Im Zusammenhang mit dem Gebot ‚Zachor: Erinnere dich!‘ sollten wir uns mit aller Wucht und Konsequenz erinnern, als ob im selben Augenblick des Erinnerns das Erinnerte lebendig würde, und uns dabei bewußt machen, daß kein Verbrechen – schon gar nicht und noch viel weniger die Shoa – ein anderes Verbrechen rechtfertigt. Er geht nicht darum, Schrecken zu vergleichen, zu messen, zu verbuchen oder abzuwägen: wenn sich das Opfer in einen Verursacher verwandelt, verbleibt die Macht – verfluchte Beilschneide – in den Händen des Henkers. Und in diesem Sinne ist die folgende Zitatstelle aus dem Talmud Jerushalmi universal eindeutig und klar: Wer einen einzelnen Menschen rettet, hat gleichsam die ganze Welt gerettet!‘

In den Debatten der Piatock-Akademie klingen darüber hinaus Wortsplitter, Gedankenblitze und Satzfragmente der ‚Linken‘ wider, die inmitten der aktuellen Verwirrung selten ihr eigenes Scheitern thematisiert und nun doch einmal überprüfen kann, welche gemeinsamen ethischen Werte die Menschen überhaupt auf die Straßen treiben. Nicht nur Palästina und Israel, sondern alle, würde Piatock an dieser Stelle gerechterweise einwerfen, verlangen unwiderruflich danach. Wenn jedoch der jüngste Piatock, der katalanische Kater, an Wänden und Möbeln kratzt oder geschickt dem Jagdinstinkt frönt, grübelt der Dichter der Piatock-Akademie, ob diese Obsession der ‚Weltverbesserung‘ jedem Schicksalsschlag widersteht. Alles wird sich wohl hinauszögern.

In der Zwischenzeit erschien bereits ‚Die Piatock-Akademie‘ in Venezuela und Argentinien. Auf Hebräisch sind gerade erste Übersetzungen daraus in Tel Aviv gefertigt worden. In Prag und Dresden las Alberto Szpunberg letzten Spätsommer vor ergriffenen Zuhörern, die sehr bald begriffen, ein traumhaft scharfsinniges Lyrikwerk kennenzulernen, das von einem engagierten Schriftsteller geschrieben und gelesen wurde, der schon mancherlei Dinge in seinem bewegten Leben gesehen und erlebt hat. Eine Piatock-Auswahl veröffentlichte die Zeitschrift ‚Ostragehege‘. Die Werkauswahl ‚El viento a veces es como todos – Der Wind ist manchmal wie alle‘ (Edition Delta, Stuttgart 2008) mit Gedichten aus den Jahren 1962 bis 2007 schließt mit seinem Biogramm.

Tobias Burghardt (Der Barbier von Berdytschiw)