Limbus Preziosen

Überlegungen zu Heinrich von Kleists unwahrscheinlichen Wahrhaftigkeiten

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Ein Vater, der seine erwachsene Tochter lange, heiß und lechzend küsst? Markus Bundi ist sich sicher: Da steckt mehr dahinter – und sieht sich veranlasst, Heinrich von Kleists Novelle Die Marquise von O.… neu zu lesen. Dabei geht es natürlich auch um den berühmtesten Gedankenstrich der deutschen Literatur, um jene Auslassung, die bislang als Platzhalter für die Vergewaltigung und Schwängerung der ohnmächtigen Marquise durch einen russischen Offizier galt.
Aber vielleicht war alles ganz anders? Raffiniert legt Bundi dar, wie sehr Kleist in seinen Anekdoten auf »unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten« aus war – und eben das nacherzählte, was nicht sein konnte, nicht sein durfte. So führen die Überlegungen geradewegs zu einem ungeheuerlichen Schluss: dass der Vater der Marquise auch der Vater ihres dritten Kindes ist.
Die Marquise von O.… ist also eine Inzest-Geschichte? Dieses Tabu erzeugte nicht nur zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts Abwehrreflexe, Markus Bundis Interpretation ist noch heute eine Provokation … aber eine bestechend gut belegte.