Lyrik

von

Zur poetischen Strategie

Schon ab 1968, als der erste Gedichtband zum Thema unter dem Titel Wunderbare Wurzeln erschien, war es klar, daß das alte Konzept, das den Zyklus als eine simple Summe einzelner Gedichte handhabt, nicht mehr aufrecht zu erhalten war. Der Autor, damals frischer Absolvent der Mathematikwissenschaften, wünschte seine neu erworbenen „Waffen“ nicht als Assistent an der Universität, sondern für die Umwälzung des Dichtens einzusetzen. In der Verskonstruktion kann man die individuellen Texte effizient überschreiten – in der Absicht der Aufwertung und Umwandlung in Richtung eines Supertextes – wenn man nach dem Modell der antiken Mosaikmeister das einzelne Gedicht als einen farbigen Mosaikstein behandelt, um eine größere Komposition zu schaffen. Werden die zusammenpassenden Teile in adäquater Weise ausgewählt, wird ersichtlich, daß das Endresultat, d.h. der Band, dann eine desto höhere Leistung darstellen würde, je größer die Distanz zwischen den einzelnen Elementen und dem Ganzen ist. Je mehr homogene und übersichtliche große Strukturen auf dem Niveau des Bandes erkennbar werden (deren Anwesenheit auf der Ebene der einzelnen Gedichte sogar als zufällig und in der Buntheit der diffusen Bedeutungen unterzugehen erscheint) desto mehr Möglichkeiten eröffnen sich für das Zusammenbrauen neuer und überraschender Mitteilungen und Inhalte. In diesem Band, wo die Gedichte bewusst so ausgewählt wurden, daß sie zur orientierten Quelle solcher metasprachlichen Kommunikation werden, wurden schließlich drei Sinnesebenen bestimmt. Die tiefste Deutungsebene ist durch die Summe der einzelnen Basisgedichte bestimmt, wo der Bonus lediglich aus der Platzierung und der Korrelation besteht. Die zweite Ebene ergibt sich aus der Deutung der allegorischen und kodifizierten Worte der ersten Ebene und besteht aus der unsagbaren Realität, die die Wahrheiten der Existenz im Ceaușescu-Regime (1976) umschreibt; schließlich erhalten wir eine dritte abstrakte Ebene auf dem Niveau der philosophischen Verallgemeinerungen, wo es um das Wesentliche des dichterischen Universums geht: zuerst um die allgemeinen gesellschaftlichen Erscheinungen (Existenz in der Diktatur), dann um die Aspekte der epistemologischen Bedeutungen der Gedichte. Der Schlüssel (Code) der sich an bestimmten Ebenen manifestierenden Bedeutungen kann durch den kontrastiven Vergleich der einzelnen Gedichte gefunden werden, da wir die drei Zyklen, die den Band bilden, so gestaltet haben, daß diese dasselbe Thema aus drei verschiedenen Herangehensweisen umschreiben: sensoriell, rational und synthetisch. Dieser dreifache Ansatz macht es, daß ein und dasselbe Gedicht nicht nur einfach einen dichterischen Text darstellt, sondern zu einem Objekt in einer dreidimensionalen Mosaikkomposition wird.
Sehen wir nun, wie dieses System in seiner Konkretheit funktioniert, da es eine Reihe mathematischer Instrumente und Begriffe in die Konstruktion einbezogen hat, und dem 1976 im Klappentext der Name mathematische Dichtung angehängt wurde.
Hier zum Beispiel gleich das Öffnungsgedicht des Bandes Gefundene Muttererde, unter dem Titel Theseus im Labyrinth. Beim ersten Blick könnten wir denken, wir seien dabei, ein mythologisches Gedicht zu lesen, in welchem Theseus, der Sohn des Königs Aigios, sich nach Kreta begibt, um für die Niederlage der Griechen Rache zu nehmen. Es ist nämlich so, daß König Minos, der die Athener besiegte, jährlich befahl, ein Schiff mit den schönsten und besten jungen Leuten zu füllen, um sie dem menschenfressenden Minotaurus zur Stillung seines Hungers anzubieten. Diese schreckliche Zwangsabgabe wurde seitens der Athener Jahrzehnte lang Jahr für Jahr verrichtet, nur Theseus, der Sohn des Königs, begehrte dagegen auf. Er war Soldat, der gewandteste Krieger, er hoffte, das menschenfressende Monster erlegen zu können. Selbst wurde er nicht als Opfer ausgelost. Dennoch ging er freiwillig mit, weil er im Herzen mutig war und den Säbel wohl beherrschte. Er dachte, das würde reichen, um dem grausigen Ungetüm entgegenzutreten. Daß dasselbe in einem Labyrinth lebte, machte ihm keine Sorgen. Er hatte von Ariadne erfahren, daß sie ein Fadenknäuel besitzt, dessen Ende er am Eingang befestigen und nach dem Sieg über das Ungeheuer einen leichteren Rückzug anstellen konnte. Sollte der Labyrinth und das darin wohnende Monster Realität sein, wäre dieses Geschehen das passende Abenteuer für eine Superproduktion. Aber unsere Fragestellung ist eine andere: Was geschieht, wenn niemand im Labyrinth wäre? Wenn das Labyrinth kein Ende hätte und es gäbe keinen Faden, der bis zum Ende reicht? Wenn das Labyrinth nur eine metaphysische Realität wäre und man könne es weder mit rationalen und noch weniger mit Waffengewalt besiegen; diese Fragen bewegen sich auf ganz anderen Ebenen, sie sind zur Meditation geeignet. Eine weitaus größere Aufgabe ist es, diesem Thema eine dichterische Gestalt zu geben.
Der Sinn dieses Poems wird durch sein Doppel-Gedicht mit dem Titel Ausgehtag ergänzt. Anscheinend geht es hier auch um eine einfache Formel. Gegeben ist eine Kaserne, ein militärisches Ausbildungszentrum, am Hang eines Leidensweg-Hügels. Der Dichter, der Held des Gedichtes, steht da und schaut durch das Fenster eines höheren Stockwerks auf die Stadt – auf eine physische Realität (Lippa/Maria Radna an der Miresch). Das Tor steht offen, er könnte hinausgehen, es ist der freie Tag der Soldaten. Alle tun es, er selbst aber akzeptiert die Gegebenheit nicht, nicht die Formel der Freiheit für einen Tag…, weil er kein zwangsverpflichteter (einberufener) Soldat sein will. Als Soldat will er nicht leben, nicht später, nach der scheinbaren Freilassung bis zu seinem Tod, als Reserveoffizier beharren. Und nun wird es gleich klar, daß das Dilemma der beiden Protagonisten daraus entspringt, daß ein als Soldat lebender und denkender Held – Theseus – in ein metaphysisches Labyrinth geraten ist, während sich im zweiten Gedicht ein Anti-Soldat in der Kaserne wiederfindet. Wäre Theseus im Bau, würde er keine Gedichte schreiben, nur gewöhnliche Vers-Reaktionen. Das aber ist für den Autor nicht von Interesse genauso wenig wie die Gefühle des Dichters im Labyrinth; dieses wurde von vielen schon besungen. Mich bewegen nur die paradoxen Situationen, die nicht-adäquaten Verhaltensmuster. In einer philosophisch präziseren Formulierung, jene Situationen, wo die durch die Epistemologie aufgezwungenen methodischen Forderungen nicht eingehalten werden.
György Mandics