Lyrik

Töne aus Europa. Gesammelt und herausgegeben von Ralf-Rainer Rygulla & Marco Sagurna

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Einige Bemerkungen zu dieser Sammlung

Marco Sagurna: Vor einem halben Jahrhundert blies der poetische Wind aus dem Westen nie dagewesene Töne und Inhalte nach Europa. Die neue amerikanische Szene brach Verkrustungen auf und verhalf mindestens einer ganzen Generation von Autorinnen & Autoren zu neuem ungehörtem, bisweilen unerhörtem Deutsch. Anderes wagen. Mehr wagen. Aus Wind wurde Sturm. Ein Aufruhr der Sinnlichkeit, der Kraftvolles hervorbrachte: Poesie, die geschrieben wurde, weil es notwendig war, sie zu schreiben – und weil es notwendig war, sie so zu schreiben. Teils zusammen, teils allein gaben Du und Rolf Dieter Brinkmann binnen zwei Jahren die Anthologien „Fuck You“, „Silverscreen“ und „ACID“ heraus. Eine Revolution?
Ralf-Rainer Rygulla: Parallel zum politischen Aufbruch in diesen Jahren. Im Nachhinein bleibt die Erinnerung, dass die deutsche – damals westdeutsche – Literatur auf diese Impulse gewartet hatte; das erklärt den Erfolg und die unmittelbare Wirkung dieser Anthologien.
Inzwischen flattern hier wieder die lauen Lüfte. Deutsche artistische DIN-Norm. Verklemmt und enthaltsam entschwebt sie über dem Parkett. Selbstverliebt. Kunstvoll und sprachgewandt. Ausformuliert. Bewundernswert wie satt und belanglos. Oder es stampft Rhythmus über die Bühne. Hartreimprojekte. Durchgetanzt und mitgefilmt.
Wie ? Was? Mal langsam. Ich würde die vielen Ausdrucksformen, die in den letzten Jahrzehnten ein sprachinteressiertes Publikum gefunden haben nicht in einen Topf werfen. Die Performance Formate Poetry Slam, Spoken Word bis zu Hiphop und Rap Musik haben ein riesiges Publikum. Der jugendliche Popmusikfan setzt sich heute mit enormen Textmengen auseinander, mit Sprache selbst, ihrem Rhythmus, ihrer Reimfähigkeit und natürlich mit Semantik.Bezeichnenderweise gibt es kaum Berührungspunkte zwischen diesem Phänomen der Popularlyrik und der deutschen Hochpoesie, wie sie hier seit einigen Jahren eine ungeahnte artistischen Fertigkeit und Finesse erlangt hat.
Wer keine milden Gedichte oder Partylyrik will, muss ostwärts schauen. Hier finden sich Texte, die als Texte bestehen. Weil es ihnen nicht reicht, sich schon an ihrer Konstruktion zu berauschen. Weil sie Ergreifendes beschreiben. Weil sie da sind. Unmittelbar da. Weil sie hingehen, herkommen, wegdürfen oder wegmüssen. Ausdruck entfaltet sich, der inhaltlich wie künstlerisch kulminiert. Und von Belang. Selbstbewusst zeigt sich der Osten. Markant. Wegweisend.
Die poetische Windrichtung zeigen nun Dichter*innen aus Osteuropa oder mit Wurzeln in Osteuropa an. Hineingefühlt übersetzt ins Deutsche nachgedichtet, kommen ihre Texte in Kleinstauflagen hier an. Kleine feine Verlage nehmen sich ihrer an. Hervor tun sich dabei die „Edition Korrespondenzen“ in Wien, der Verlag „Das Wunderhorn“ in Heidelberg, der „Pop“ Verlag in Ludwigsburg – oder auch der „Literaturverlag Droschl“ in Graz und Wien.
Aber die Wertschätzung für Osteuropa in Deutschland ist mehr als ausbaufähig; das Verhältnis zur Poesie mit Wurzeln in diesen Ländern überheblich – trotz all der hiesigen Lyriker*innen, die Osten so vortrefflich übersetzen. Wenn es nicht eigentlich so ein schöner Zustand wäre, müssten wir sagen, uns geht es zu gut. Poetisch können wir vor Kraft nicht mehr laufen. Wirklich kraftvoll kommt es aus dem Osten, wo sich das Leben durch die politischen, juristischen wie wirtschaftlich spannungsreichen Gemengelagen und aufgrund von Auseinandersetzungen grundlegender Art so sehr aufgeladen hat, dass es die Poesie braucht.
Was mich an den gefunden Texten aus Ost– und Südosteuropa so erstaunt hat, ist das selbstverständliche Dasein von Gegenwart, von Leben, Tod und Liebe, eine Art tabuloses Erzählen, der vitale Umgang mit dem was ist. Das hat mich sehr überrascht, weil ich als gewohnheitsmäßiger Lyrikleser seit Jahren die großartigen Sprachkonstrukte der deutschen Lyrik heute, die vortreffliche Ausdrucksakrobatik unser DichterInnen bewundere und mit Genuß konsumiere. Die Texte von zum Beispiel Monika Rink, Ann Cotton, von Jan Wagner, Ulf Stolterfoth et al. sind seltsam unberührt von realen Umständen, von Geschichte, Politik, von Leid und Freud. Sehnsucht oder Leidenschaft oder Betroffenheit findest du nicht in diesen Gedichten. Das Sprachkunstwerk genügt sich selbst, und wahrhaftig es funkelt und glänzt in Schönheit. Auf Kosten der schnöden Gegenwart? –
Das hier verpönte narrative Element ist bei unseren ausgewählten Autoren ein selbstverständlicher Bestandteil ihres poetischen Vorgehens. Die Abstraktion ist einerseits sicherlich ein notwendiges Mittel der Sprachverdichtung, aber hier wird sie im Zaum gehalten durch das behandelte Material, durch die Topoi des Alltags, durch die Umstände einer Existenz. Mutter, Vater, Gott und Krieg, Lust, Humor und Seele.
Seele, dieses Wort, dessen Inhalt so uneindeutig wie elementar ist und das in hiesigem Gedichte nicht vorkommt, der Osten hat sie: die Seele. Länderübergreifend. Existenziell. Und immer wieder. Fast niemand der hier versammelten Autorinnen & Autoren spart sie aus, ob wörtlich vorgestellt von Amanda Aizpuriete, Boris Bartfeld, Georgi Gospodinov, Nikolai Jakimtschuk, Claudiu Komartin, Dagmara Kraus, Micho Mossulischwili, Zsuzsa Rakovszky, Boris Ryzhy oder unausgesprochen.
In dieser Dichtung spiegelt sich die aktuelle europäische Geschichte authentisch als einzigartig poetisches Narrativ. Wer Ost Südost, wer Europa kennenlernen will, der lese diese Poesie. In diesen Texten ist Elementares.
Poetisch gebunden finde ich Alltag, wie etwa bei Bela Chekurishvili, Arzu Demir, Kristiane Kondrat, Ewa Lipska, Zvonko Maković, Marko Pogačar, Traian Pop Traian, Sergej Tenjatnikow oder István Vörös. Inneres wie äußeres existenzielles Desaster, wie etwa bei Maia Sarishvili, Gleb Schulpjakow oder Gelu Vlaşin. Inneres wie äußerliches Wiederbeleben, wie etwa bei Ruxandra Niculescu oder Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki. Ohnmacht, wie etwa bei Irma Shiolaschwili. Krieg, wie etwa bei Faruk Šehić. Lieder wie etwa bei Jegor Letow oder PAPI. Sehnsucht und Eros, wie etwa bei Daniel Bănulescu, Petr Borkovec, Jelena Fanajlowa und Tomaž Šalamun. Zorn und Leidenschaft, wie etwa bei Horst Samson. Heimat, nicht als vorgegeben zu bespielendes Thema, sondern als vielwertige Essenz, wie etwa bei Boris Bartfeld, Artur Becker, Mariusz Grzebalski und Francisca Ricinski. Virtuoses Spiel mit der Wildcard, wie etwa bei Olessja Bessmeltseva, Ivan Blatný, Metin Cengiz, Anja Golob, Wjatscheslaw Kuprijanow, Ewa Lipska, Milena Marković, Miodrag Pavlović, Dmitri Strozew Dmitry Vodennikov und Izzet Yasar.
Ich würde es gern deutlich aussprechen: wir haben uns auf einen Filter verständigt, der im Zuge des monatelangen Lesemarathons immer deutlicher sortierte nach diesem existenziellen Ton, nach einer anderen spannenden länderabhängigen Wirklichkeit und der die gewonnene Vorliebe für diesen Ton immer weiter befeuerte. Und wir haben uns auf die Akustik der Texte eingelassen, die im besten Fall auf die Ursprungsprache und ihre Andersartigkeit verweist.
Es ging nicht so sehr um das Neue, Unerwartete, um das Aufspüren einer Avantgarde, – vielmehr um die großartige Vielfalt des poetischen Ausdrucks und um die verschütteten Möglichkeiten von Dichtung jenseits von Trend und Mode.