Magische Dreiecke. Berichte für eine nachhaltige Gesellschaft

Eine wachsende Wirtschaft wird heutzutage noch immer als etwas unbedingt Positives angesehen. Kurzfristige Erfolge erscheinen wichtiger als tiefergreifende Veränderungen, die unsere Gesellschaft erst zukunftsfähig machen könnten. Ein tragfähiger Ausgleich zwischen ökonomischen, ökologischen und sozialen Erfordernissen ist noch nicht gefunden. Aber erst wenn im Magischen Dreieck dieser drei Aspekte von Nachhaltigkeit ein gemeinsames Leitbild entwickelt und anschließend auch umgesetzt wird, besteht Hoffnung.
Die hier veröffentlichten Beiträge zum 3. Weimarer Kolloquium der Vereinigung für Ökologische Ökonomie haben das Ziel, realistische Zukunftsbilder einer nachhaltigen Gesellschaft zu entwickeln und die gegenwärtige Situation auf den Prüfstand zu stellen, in welchem Maße sie den gesetzten Zielvorgaben entspricht.

Inhalt
Carsten Stahmer
Das unbekannte Meisterwerk – Sir Richard Stone und sein System of Social and Demographic Statistics
Joachim Frohn
Zur Erweiterung von ökonometrischen Umweltmodellen um soziale Komponenten
Bernd Meyer
Die Ergänzung des umweltökonomischen Modells PANTA RHEI um die soziale Dimension
Michael Jischa, Ildiko Tubore
Quantifizierung von „weichen“ Faktoren in Nachhaltigkeitsszenarien
Jürgen Schramke
Goethe als Naturforscher – Philosophie im Gedicht
Georg Ewerhart
Bildungsinvestitionen, brutto und netto – Eine makroökonomische Perspektive
Günter Strassert, Carsten Stahmer
Sachkapital und Physische Input-Output-Rechnung – Überlegungen zur Integration der Investitionsgüter in den Transformationsbereich einer Physischen Input-Output-Tabelle
Gerhard Scherhorn
Zur Messung des Wohlstands
Klaus Müller, Axel Dosch und Verena Toussaint
Nachhaltige Landnutzung im Konsens – Möglichkeiten und Grenzen einer interdisziplinären und umsetzungserweiterten Aktionsforschung
Vorwort
Susanne Hartard und Carsten Stahmer
Das 3. Weimarer Kolloquium mit dem Thema „Sozio-ökonomische Berichtssysteme für eine nachhaltige Gesellschaft“ fand eine Woche nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 statt. Während unseres Zusammenseins standen wir noch unter dem Schock der aktuellen Ereignisse und nur mit einiger Überwindung konnten wir uns den speziellen Themen unserer Veranstaltung widmen.
Im Laufe unserer Diskussionen wurde uns dann allerdings klar, dass die Thematik des Kolloquiums nicht ohne Bezug zu den Flugzeugattentaten stand. Die terroristischen Aktivitäten sind nur zu verstehen, wenn wir uns mit der sozialen Situation in den Entwicklungsländern und ihren wirtschaftlichen Beziehungen zu den Industrienationen beschäftigen. Solange wir unseren Wohlstand auf Kosten der armen Länder vermehren, sind weltweite soziale Spannungen zu erwarten, die sich auch in Terroraktionen entladen können.
Wenn wir das Konzept einer nachhaltigen Gesellschaft konsequent durchdenken und diesen Begriff nicht nur als Modewort verwenden, so müsste der soziale Ausgleich zwischen reichen und armen Ländern eines der vorrangigen Ziele unserer Politik sein. Dafür genügt es keineswegs, dass wir den Anteil unserer Entwicklungshilfe am Bruttoinlandsprodukt um einige Promille erhöhen. Bei der Rio-Konferenz 1992 haben die Entwicklungsländer den Industrienationen vorgerechnet, dass allein durch Handelshemmnisse, die von den reichen Ländern gegenüber den Produkten der Entwicklungsländer aufgebaut werden, diese Länder finanzielle Einbußen haben, die höher sind als der Gesamtbetrag der Entwicklungshilfe.
Ein gerechter Ausgleich zwischen Nord und Süd erfordert sehr viel mehr als mildtätige Gaben. Wir müssten unseren Lebensstandard und Umweltverbrauch so senken, dass die ärmeren Länder eine faire Chance für ihre Entwicklung bekommen, ohne dass unsere natürliche Umwelt durch die gemeinschaftliche Umweltnutzung im Übermaß belastet wird. Aber gerade zu diesem freiwilligen Verzicht auf materiellen Wohlstand sind die reicheren Länder nicht bereit. Es herrscht viel Skepsis, ob durch die Konferenz in Johannisburg im Herbst 2002 hier eine Trendwende eingeleitet werden kann.
Bei vielen Diskussionen darüber, wie wir im Interesse der Lebenschancen der Entwicklungsländer ebenso wie der Erhaltung der Natur unsere materiellen Bedürfnisse einschränken könnten, tritt sofort das Schreckgespenst eines sozialen Notstandes in unserem Land auf. Immer wieder wird versucht, uns davon zu überzeugen, dass nur ein wirtschaftliches Wachstum unsere eigenen sozialen Probleme, z.B. im Zusammenhang mit steigender Arbeitslosigkeit und einem zunehmenden Anteil älterer Menschen, lösen können.
Wenn wir über eine nachhaltige Zukunft unserer Gesellschaft nachdenken, so müssten wir deshalb realistische Szenarien entwickeln, wie wir auch bei einer stationären bzw. schrumpfenden Volkswirtschaft gut leben könnten. Ein sozio-ökonomisches Berichtssystem für eine nachhaltige Gesellschaft müsste darauf Antworten geben können.
André Gorz hat in seinem Buch „Arbeit zwischen Misere und Utopie“ dazu viele Anregungen gegeben. „Wir müssen die gegenwärtige, auseinanderfallende Gesellschaft aus der Perspektive der ganz anderen Gesellschaft und Ökonomie wahrnehmen, die sich am Horizont der aktuellen Veränderungen als deren äußerster Sinn bezeichnen.“ (S. 110). André Gorz plädiert dafür, bei Gesellschaftsentwürfen Beschreibungen und Erfahrungsebenen zu vereinen, die sich sonst nur getrennt und fragmentarisch ausdrücken: „. etwa neue soziale Beziehungen, die sich der Logik des Marktes, des Geldes, der geschlechtsspezifischen Aufgabenteilung entziehen, neue zeitliche Freiräume, die nicht der Lohnarbeit unterworfen sind, neue Produktionstechniken und ein neues Verhältnis zur Umwelt, die für das natürliche Gleichgewicht und andere Lebensformen Sorge tragen, etc. Im Zentrum all dieser Neugestaltungen steht die individuelle und kollektive Wiederaneignung der Zeit und der Zeitverteilung“ (S. 112).
Sozio-ökonomische Berichtssysteme für eine nachhaltige Gesellschaft könnten aus drei Teilbereichen bestehen. Zunächst ist es nötig, in einer Gesamtschau die bisherige Entwicklung unserer Gesellschaft zu beschreiben, wobei gleichermaßen soziale, ökonomische und ökologische Aspekte Berücksichtigung finden müssten. Derartige sozio-ökonomische Gesamtrechnungen geben uns bereits einen Eindruck von langfristigen Entwicklungsspielräumen. Sie liefern aber zugleich die nötige Datenbasis für die Modellierung von Zukunftsszenarien, die mit realistischen Annahmen verschiedene „Zukünfte“ entwerfen. In einer Erzählung von Jorge Luis Borges von 1942 wird der „Garten der Pfade, die sich verzweigen“ beschrieben, der alle möglichen zukünftigen Entwicklungen umfasst. Aufgabe von Modellrechnungen könnte es sein, einigen dieser Pfade nachzugehen und sich vorzustellen, welche Zukunft für eine nachhaltige Entwicklung ausgewählt werden sollte. Schließlich könnte ein sozio-ökonomisches Berichtssystem auch einen Vergleich der gegenwärtigen Situation unserer Gesellschaft mit den in den Szenarien beschriebenen Entwicklungsmöglichkeiten enthalten. Damit könnte verdeutlicht werden, wie groß die „Nachhaltigkeitslücken“ noch sind.
In der gegenwärtigen Situation können wir diese Ansprüche an ein Berichtssystem noch keineswegs erfüllen. Die in diesem Band vorgestellten Beiträge könnten aber erste tastende Schritte in diese Richtung sein. Mögliche Konzepte für sozio-ökonomische Gesamtrechnungen werden von Carsten Stahmer vorgestellt. Schon der Titel seines Beitrags Das unbekannte Meisterwerk deutet auf die großen Hindernisse hin, die wir zu überwinden haben, bis wir selbst unser Meisterstück abliefern können. Erste Überlegungen zu sozio-ökonomischen Modellrechnungen enthält der Beitrag von Joachim Frohn. Hier werden entsprechend den Vorgaben des „Magischen Dreiecks der Nachhaltigkeit“ ökonomische, soziale und ökologische Faktoren im Modellzusammenhang kombiniert. Grundlage für zukünftige Modellrechnungen könnte das an der Universität Osnabrück entwickelte disaggregierte ökonometrische Modell sein. Bernd Meyer stellt den Modellrahmen vor und erläutert, welche Modellbausteine für eine Erweiterung des sozio-ökonomischen Teils bereits zur Verfügung stehen.
Gerade bei sozio-ökonomischen Analysen liegen Informationen vor, die auf den ersten Blick nicht quantifizierbar sind. Michael Jischa gibt in seinem Beitrag einen Überblick, wie solche „weiche“ Faktoren bei Nachhaltigkeitsszenarien einbezogen werden könnten. Ein Beispiel für qualitative Aspekte unserer Gesellschaft ist auch der Bildungsstand der Bevölkerung. Georg Ewerhart stellt Überlegungen vor, wie das Bildungsvermögen im Rahmen der Gesamtrechnungen nachgewiesen werden kann. Welche Komplikationen im Zusammenhang mit dem Kapitalbegriff auftreten können, wenn wir die physische Seite unserer Produktion Ernst nehmen, wird von Günter Strassert und Carsten Stahmer im Zusammenhang mit der physischen Input-Output-Tabelle erläutert. Die zunächst sehr speziell klingende Fragestellung soll Zweifel säen, ob die traditionelle Trennung von Bestands- und Stromrechnung unter Nachhaltigkeitsaspekten überhaupt aufrechtzuerhalten ist.
Wenn wir die traditionsgemäß ökonomische Ausrichtung unserer Berichtssysteme um die soziale bzw. ökologische Dimension ergänzen wollen, müssen wir auch unseren Wohlstandsbegriff entsprechend überdenken. Gerhard Scherhorn stellt die Konzepte für ein „magisches Dreieck“ von Güter-, Zeit- und Raumwohlstand vor. Ein spezieller Aspekt des Raumbezuges, nämlich die Landnutzung, wird von Klaus Müller, Axel Dosch und Verena Toussaint in Beziehung zur Nachhaltigkeitsdiskussion gesetzt. Die Autoren erläutern vor allem Chancen und Hindernisse bei der praktischen Umsetzung der Nachhaltigkeitskonzepte.
Die Wahl von Weimar als Tagungsstätte hängt nicht nur mit der ausgezeichneten Betreuung der Teilnehmer in der Europäischen Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätte zusammen. Sie ist vor allem durch die lebendige Tradition bedingt, die wir an diesem Ort erleben. Die vielen Erinnerungsstätten in Weimar und Umgebung vermitteln uns Anregungen und Mahnungen zu gleich. Anregungen erhalten wir vor allem durch die Weimarer Klassik und Jenaer frühe Romantik. Wie Jürgen Schramke in seinem Beitrag über Goethes Naturphilosophie zeigt, hat Goethe den vom Weimarer Kreis angestrebten ganzheitlichen Bezug in seinen Werken immer wieder herstellen können. Geistes- und naturwissenschaftliche Themen wurden damals noch in einen engen Zusammenhang gesetzt, den wir heutzutage durch die weiter zunehmende Spezialisierung nur mit Mühe wiederherstellen können. Aber gerade das Konzept der Nachhaltigkeit setzt dieses integrative Konzept voraus. Von Weimar als Tagungsort gehen aber auch Mahnungen aus. Die Erinnerungsstätte des Konzentrationslagers Buchenwald fordert uns auf, mit aller Kraft, zu einer stabilen zukunftsfähigen Gesellschaft beizutragen, die keinen Raum mehr für sozialen Zerfall und ihre unmenschliche Saat gibt.
Ob wir letztlich mit unseren Anstrengungen auf den weiteren Verlauf unserer Gesellschaft wirken können, bleibt offen. Wir könnten uns dem Urteil anschließen, das André Gorz in dem zitierten Buch über seine eigenen Bemühungen fällt: „Ich weiß nicht, ob meine Weise, Wünsche befreien und Phantasien aus ihren Fesseln lösen zu wollen, die richtige war. Noch weiß ich, ob die in die von mir skizzierte Richtung gehenden Politiken jemals umgesetzt werden. Jene, die sie insgesamt als eine „Utopie“ verwerfen, mache ich nur darauf aufmerksam, dass der Utopie, im Sinne von Ernst Block oder Paul Ricur, die Aufgabe zukommt, uns zum Zustand der Dinge jenen Abstand zu geben, der es uns möglich macht, unser Handeln im Lichte dessen, was wir tun könnten und sollten, zu beurteilen.“ (S. 161)
Nicht utopisch ist der Freundschaftsbund, der die Mitglieder des Weimarer Kreises verbindet. Wenn wir eine Chance haben könnten, unsere Utopien einer nachhaltigen Gesellschaft zumindest ansatzweise zu realisieren, so nur durch gemeinschaftliches Handeln. Auch hierzu hat Goethe in seinem Gedicht „Am acht und zwanzigsten August 1826“ die richtigen Worte gefunden, die er unter anderen an seinen „Urfreund v. Knebel“ schickte:

Des Menschen Tage sind verflochten,
Die schönsten Güter angefochten,
Es trübt sich auch der freiste Blick;
Du wandelst einsam und verdrossen,
Der Tag verschwindet ungenossen
In abgesondertem Geschick.
Wenn Freundes Antlitz dir begegnet,
So bist du gleich befreit, gesegnet,
Gemeinsam freust du dich der Tat.
Ein zweiter kommt sich anzuschließen,
Mitwirken will er, mitgenießen,
Verdreifacht so sich Kraft und Rat.
Von äußerm Drang unangefochten
Bleibt Freunde so in Eins verflochten,
Dem Tage gönnet heitern Blick!
Das Beste schaffet unverdrossen;
Wohlwollen unserer Zeitgenossen
Das bleibt zuletzt erprobtes Glück.