Mein fremder Krieg

Erinnerungen. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Markus Sahr. Einbandphotographie: Kurt Klagsbrunn

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MEIN FREMDER KRIEG (MINHA GUERRA ALHEIA), 2010 in Rio de Janeiro erschienen, ist ein autobiographisches Szenenbuch und zugleich eine Art erwachter Empfindungsfundus aus den Erinnerungen der italo-brasilianischen Autorin Marina Colasanti.

1937 wird Marina Colasanti in Asmara, dem damaligen italienischen Kolonialgebiet Abessinien, als Kind italienischer Eltern geboren, die Familie zieht 1940 wieder nach Italien. Auf den für die Dreijährige besonders prägenden Kulturwechsel folgen bald die Eindrücke des Zweiten Weltkriegs – wenn auch aus einer gewissen Wahrnehmungsferne, denn der Vater findet immer wieder sichere, gar schöne Zuhause, auch wenn die Familie dafür ständig erneut aufbrechen und das Land durchreisen muß im Zurückweichen vor der Front.

Trotz ihrer besonderen Geborgenheit: Auch diese Kindheit bestimmt natürlich der Krieg mit seinen Bedrohlichkeiten, dem Zerfallen des gewohnten Erlebens, dem Erlernen von Verzicht:

‚Das erste, was man im Krieg lernt, oder wenigstens eines der ersten Dinge, mit denen ich mein kindliches Überlebenseinmaleins erstellte, ist das Ersetzen. Wenn etwas, das zuvor als unersetzlich galt, zu fehlen beginnt, setzt man etwas anderes an seine Stelle, das von nun an unersetzlich ist, bis es seinerseits ersetzt wird. Man dankt dem Himmel dafür, daß es das andere gibt. Und an Stelle des Wortes unersetzlich setzt man wünschenswert.‘

MEIN FREMDER KRIEG ist zunächst eine Spurensuche nach dem schon lange verstorbenen Vater, einem Industriellen, der ein überzeugter Anhänger Mussolinis gewesen war, auch nach den Ursachen seiner faschistischen Überzeugungen.

Es ist zudem ein Erinnerungsbuch, bei dem der Krieg sich in den Augen eines Kindes spiegelt, dem glückliche Umstände gestatteten, nicht nur am Leben, sondern mit allen Sinnen lebendig zu bleiben, so daß der erwachsene Mensch Impressionen von ungeheurer Detailgenauigkeit und verblüffender Präzision hervorzuholen vermag. Und die Wiederbegegnung der erwachsenen Autorin mit den Orten ihrer Kindheit verleiht den Kindheitserinnerungen eine melancholische Aura der Unwiederbringlichkeit. Die Erfahrungen der Kindheit sind zu Kristall geschossen, und die erwachsene Frau bemüht sich vergeblich, die Kristallschichten zu durchdringen, um dem Kind noch einmal begegnen zu können: Sie kann es sehen, aber nicht berühren.

Der Schutzmantel, in den die kleine Marina gehüllt zu sein scheint, ist ein schon seit frühester Jugend künstlerischer Blick auf alles, was sich um sie herum ereignet. Vater und ein Bruder, die später Schauspieler sein werden, dazu eine Großtante, eine berühmte Opernsängerin, und ein Onkel, der als Bühnen- und Kostümbildner nicht nur in Theatern und Operhäusern zu Hause war, sondern auch in der Cinecittà ein und aus ging (und das Mädchen dorthin mitnahm) – so werden ihr die Beobachtungen und Erlebnisse zu Film- oder Bühnenszenen, und ihre Aufmerksamkeit führt dabei Regie.

Vor allem der Film ist ihr Ariadnefaden, an dem Colasanti sich durch das Labyrinth der historischen, familiären und emotionalen Wirren tastet.

Und wann immer der Kindsverstand einstmals an seine Grenzen stieß oder heute das erinnernde Verständnis sich müht, hilft der Rekurs auf das große Deutungssystem Kino, um sich zurechtzufinden.

Diese Autobiographie berichtet somit auch davon, wie eine Familie, ein Land, eine Zeit, wenn alle Orientierung erlischt, den Blick zum verführerischen Licht der Leinwand richtet und sich dadurch mitunter sogar (wieder)entdeckt.